Herzerwärmende Berichte aus unserer kleinen Stadt
Kent Haruf, der große amerikanische Erzähler, hat sechs wunderbare Romane veröffentlicht, der letzte, Our Souls at Night, ein Jahr nach seinem Tod 2014. Auf Deutsch ist Unsere Seelen bei Nacht, im Diogenes Verlag, übersetzt von pociao, 2017 aufgelegt worden. Danach hat der Verlag die Bände in umgekehrter Reihenfolge veröffentlicht. Alle Geschichten spielen in der Kleinstadt Holt irgendwo in Colorado.
Zwar hat der Goldmann Verlag den dritten Band aus der Holt-Reihe, Plainsong, 1999, von Rudolf Hermstein übersetzen lassen, doch damit keinerlei Aufmerksamkeit erregt. Erst die nuancenreiche, die Stimmung perfekt wiedergebende Übersetzung von pociao hat das Interesse an den Werken Kent Harufs geweckt. Nahezu gleichzeitig mit der deutschen Auflage des letzten Werkes, Unsere Seelen bei Nacht, ist im Kino die Verfilmung des Romans mit Jane Fonda und Robert Redford gezeigt worden. Auch ein nicht lesefreudiges Publikum wurde dadurch auf den Pfarrerssohn Kent Haruf aus Pueblo / Colorado aufmerksam. Our Souls at Night ist erst ein Jahr nach des Autors Tod in New York erschienen. Haruf liebt die kleine Stadt, die Felder, möglicherweise sogar den Wind und den Staub. Er liebt auch die Menschen in Holt, die teils schwer arbeiten und sich meist klaglos in ihr Schicksal ergeben. Vor allem sind es die hilfsbereiten, freundlichen, auch die sonderbaren, die wortkargen und die wortreichen, die er vorstellt. In Holt gibt es viele von ihnen, doch es gibt auch ekelhafte, ja böse Mitbürger (Frauen sind da nicht dabei, sind schlimmstenfalls tratschsüchtig), die andere quälen und betrügen. Auch die werden mit Respekt behandelt. Dabei überlässt Haruf das Psychologisieren, das Fragen nach dem Warum und Kommentieren, den Leserinnen. Er erzählt Punkt für Punkt, Schritt für Schritt, was sich abspielt in und um Holt. Wie ein bekanntes Foto liest sich das Geschehen, das selten aufregend ist. Schnell ist die Leserin mit den Bewohner:innen von Holt, vertraut, kennt sie alle, auch die beiden unbeholfenen Brüder, die auf ihrer Farm eine schwangere Teenagerin aufnehmen und den Aufschneider in seinem knallroten Cadillac. Und Haruf kennt auch das weite Land, hat er doch Colorado als Wohnsitz gewählt. Seine Eltern sind mit den vier Kindern oft umgezogen. Kent hat in jungen Jahren das Heimcounty sehr wohl verlassen, hat studiert, ist ins Peace Corps eingetreten und wurde in die Türkei geschickt, mit seiner ersten Frau hat es ihn in den Nordosten von Colorado ins Yuma County verschlagen.
Schließlich ist er doch wieder an den Arkansas River zurückgekehrt, wo er auch zur Welt gekommen ist. Seite zweite Frau, Cathy, fasst den Lebenslauf Harufs in einem Interview für ein County-Magazin kompakt zusammen: Colorado was Kent's home. He was born in Pueblo, grew up in Cañon City, raised his kids in Yuma and lived his last twenty years in Chaffee County. Haruf-Kenner vermuten, dass die Kleinstadt Yuma im Yuma County mit etwa 3.500 Einwohnern das Vorbild für Holt ist. Yuma befindet sich in der Ebene, in der auch Holt angesiedelt ist, während die Eckpunkte seines Lebens, Pueblo und Salida, beide am Arkansas River, in den Bergen, am Fuß der Rocky Mountains liegen. In einem Interview mit dem Colorado Central Magazin gesteht Haruf:
Ich möchte nicht mehr im Flachland leben, auch wenn ich eine besondere Zuneigung und Affinität zum Flachland empfinde. Jetzt habe ich eine Art mythische Vorstellung von dem ganzen Land und von Colorado entwickelt, die in mancher Hinsicht nicht der Realität dieser Orte entspricht. Doch es ist sicherlich das, worüber ich nachdenke und worüber ich schreibe, sodass ich für meine Arbeit nicht mehr wirklich dort draußen sein muss. (frei übersetzt)
Seinem Debüt-Roman, einem noch etwas holprigen Erstling, wird eine Forstsetzung erst sechs Jahre später folgen. Haruf beobachtet lange, denkt viel und schreibt mit Bedacht, nur sechs Bücher umfasst sein Œuvre, doch in diesen ist eine ganze Welt, eine Kleinstadtwelt, eine ländliche Welt, zu finden. Es gelingt ihm, die Sehnsucht nach dem harten, aber eher friedlichen Leben, nach der weiten Prärie und den staubigen Trucks, zu wecken, auch wenn klar ist, dass ein Großstadtmensch solch ein Leben sicher nicht aushält.
Doch die, die in Holt hineingeboren sind, wissen, dass sie hier nicht wegkommen, arrangieren sich mit dem Leben und ihrem Schicksal, wie Edith Goodnough, über deren Leben Haruf in seinem Debüt berichtet. Das Band, das sie hält, ist die Familie, auch wenn diese nur aus einem bösartigen Vater und einem verantwortungslosen jüngeren Bruder besteht. Edith war 17 als die Mutter starb und sie nicht nur die Rolle einer Mutter für Bruder Lyman übernehmen musste, sondern auch Knecht und Hausmädchen, Köchin und Farmerin sein. Der Vater hat sie zur Leibeigenen gemacht und als der Bruder, der wie andere Holt verlassen hatte, aber reumütig wieder zurückkam, alt geworden war, diente Edith ihm. Aber irgendwann hat die 80-jährige Edith begriffen, dass es jetzt reicht, das Maß voll ist. Eigentlich hätte die Hälfte an Leid und Grausamkeit auch genügt, um Ediths Charakter, ihr Leben und Durchhalten zu schildern und zu begreifen. Würde dieser Roman als erster gelesen, hätte man allerhand daran auszusetzen –zu sentimental, zu kitschig, etwas zu künstlich – doch es ist ein Debüt, ein erster Versuch, Romane zu schreiben, und weil deutschsprechende Leserinnen die Reihe aus Holt mit dem letzten Bericht begonnen haben, können sie Gnade vor Kritik ergehen lassen. Gut gefallen hat mir die Idee des Erzählers. Es ist Sanders, der nächste Nachbar, dessen Haus eine halbe Meile entfernt steht. Er könnte Ediths Enkel sein, so aber ist er der Enkel von John Roscoe, der Edith einst einen Heiratsantrag gemacht hat. Sie hätte schon wollen, doch der Vater war dagegen, er brauchte sie als Sklavin. Edith hat gehorcht und Holt niemals verlassen.
Dass Edith sich nie emanzipiert hat, die Schürze hingeworfen, die Kühe ein letztes Mal gemolken hat und auf und davon ist, hängt auch von der Zeit ab, in der Das Band, das uns hält, spielt: Edith ist 1897 geboren, sie lebt also in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, da hatten auch in Europa nur wenige Frauen die Möglichkeit, den Mut und die Hilfe, um einfach wegzurennen.
Ob Holt ausgedacht oder in Yuma ein Vorbild hat, ob das flache Land mythisch oder echt ist, es ist auf alle Fälle gewinnbringend, Kent Harufs Romane zu lesen. Das obige Zitat zu veröffentlichen ist, recht besehen, eine Bosheit, denn der Leserin begegnen echte Menschen, mit authentischen Gefühlen, Hilfsbereitschaft und Empathie (weil Haruf selbst unterrichtet hat, sind es die Lehrerinnen, die es ihm besonders angetan haben). Kent Haruf hat mit seinen Romanen ins 19. Jahrhundert zurückgegriffen, als das realistische Erzählen en vogue war. Dass er zudem ein guter Beobachter, Menschenfreund und Humanist war, macht die Lektüre empfehlenswert.
Kent Haruf: Das Band, das uns hält, The Tie that Binds, aus dem amerikanischen Englisch von pociao und Roberto de Hollanda. 320 Seiten. € 25,70. Diogenes, 2023. E-Book 21, 99.
Alle sechs Romane Kent Harufs sind im Diogenes Verlag erschienen.