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Eine mutige Frau zeigt den Männern ihre Stärke

Die erste bekannte Abbildung eines Frauenradrennens. Bordeaux 1868.

Wenig weiß man über Heldin amerikanischer Feministinnen und Radsportler des 19. Jahrhundert, Anna Kopchovsky, geborene Cohen, genannt Annie Londonderry. Auch das Quellenmaterial ist spärlich. Susanna Leonard muss in ihrem Roman über Die Radfahrerin Annie Londonderry allerhand erfinden, wenn sie über die Weltreise Annies mit dem Fahrrad erzählt. Die Radfahrerin ist nicht nur ein Roman über eine unkonventionelle Frau, sondern erzählt auch viel über den Kampf der Frauen um Selbstbestimmung und Gleichstellung mit Männern. Die Pointe: Es waren natürlich Männer, die das mit Muskelkraft betriebene Zweirad erfunden haben.

Annie Cohen Kopchovsky, genannt Annie Londonderry, etwa  1896. © Studio Toune Boston / gemeinfreiAnna Cohen ist in Lettland geboren. Sie ist kaum vier Jahre alt, als die jüdische Familie mit den fünf Kindern nach Nordamerika emigriert. Mit 17 Jahren heiratet Anna den jüdischen Hausierer Max Kopchovsky, bringt drei Kinder zur Welt und verlässt für 15 Monate ihre Familie im Ghetto von Boston, um das hohe Preisgeld zu erringen, das für eine Weltumrundung per Fahrrad ausgeschrieben ist. Den Namen Londonderry bekommt sie von einer Mineralwasserfirma, der Londonderry Lithia Spring Water Company aus New Hampshire. Der erste Sponsor war gewonnen, Anna Kopchovsky wird zu Annie Londonderry. Am 25. Juni 1894 startet sie von Boston Richtung Chicago. Nach vier Monaten kommt sie endlich völlig erschöpft an. Das Rad ist viel zu schwer, die Bekleidung total ungeeignet. Doch der Zusammenbruch dauert nur ein paar Wochen, dann sitz Annie Londonderry in sportlicher Kleidung wieder auf dem Sattel. Buchumschlag : Das Radfahren der Damen, von Dr. med. C. Fressel, Cur-Arzt Bad Ems. © gemeinfrei Es dauerte nahezu 100 Jahre bis aus der von Karl von Drais 1817 vorgestellten Laufmaschine, Draisine genannt, das heute gebräuchliche Fahrrad geworden ist. Massentauglich wurde es Ende des 19. Jahrhunderts durch den Luftreifen. Der britische Tierarzt John Boyd Dunlop hatte die Erfindung des Schotten Robert William Thomson mit besserem Marketing wieder auf den Markt gebracht und aus dem belächelten Veloziped ein beliebtes Sportgerät und massentaugliches Verkehrsmittel gemacht. In den USA wurde das Bicycle sehr schnell, doch etwas später als in Europa populär, allerdings nur für Männer, die auch auf dem neuen Verkehrsmittel den Zylinder auf dem Kopf behielten. Für Frauen galt das Fahrradfahren als ungesund und unschicklich, überdies schränkten die damals übliche Bekleidung, Korsetts und voluminöse lange Röcke, die sportliche Bewegungen der Frauen ein. Werbeplakat des französischen Fahrrad-Herstellers Société Gladiator, 1905. © gemeinfreiKeine Überraschung, dass die Suffragetten das Fahrrad zum Symbol für die Frauenemanzipation erhoben haben. Die Frauenrechtlerin Susan Anthony (1820–1906) sagte in einem Interview mit der ebenfalls bekannten Journalistin Nellie Bly (1864–1922): „Das Fahrrad hat mehr zur Emanzipation der Frauen beigetragen als alles andere auf der Welt.“ Nellie Bly war nicht nur für ihre neue Art des Investigativjournalismus berühmt, sondern auch für ihre Weltumrundung in 72 Tagen in Anlehnung an Jule Verne. Anders als Annie Londonderry hat Bly den Zug und das Schiff benützt. Susann Anthony war es, die Annie auf ihrer Reise in Gedanken begleitet und dafür gesorgt hat, dass die Zeitungen darüber berichtet haben. Auch die Organisation der Frauenvereine, die Annie oft begrüßt und auch ein Stück begleitet haben, sowie das Reservieren der Unterkünfte hat Anthony übernommen.  Radfahrerin im Fahrradanzug mit Blommers (Pumphosen) in einer Werbung für Einreibemittel, 1897. © gemeinfrei
Anna Kopchovsky musste erst lernen, mit dem neuen Gerät zu fahren, nachdem sie sich entschlossen hatte, die vorgeschriebe Weltreise zu machen, um das Preisgeld und damit ein besseres Leben zu gewinnen. Heute würde man Annie ein Marketinggenie nennen, neben ihrem Fahrrad hat sie auch sich selbst als Werbeträgerin zur Verfügung gestellt. Anfangs fuhr sie ein schwergängiges Herrenrad mit Vollgummireifen und wollte ihr Vorhaben nach drei Monaten aufgeben, so kaputt war sie davon, das Ungetüm bergauf und bergab zu lenken. Den Umschwung brachte ein neuer Sponsor, von dem sie das neueste Modell der Firma Sterling mit Luftreifen bekommen hat. Mit Vertrag natürlich. Gerne erfüllt sie diesen und rührt in Interviews und Vorträgen die Reklametrommel für das „Wunderrad“. Durch Europa fährt sie mit der amerikanischen Flagge auf dem Rücken und bald meldeten sich die Sponsoren von selbst. Annie war in aller Munde, und sie fuhr mit ihrem Rad als lebende Reklametafel durch die Kontinente. Schließlich musste sie nicht nur beweisen, dass eine Frau den Männern an Kraft und Ausdauer in nichts nachsteht, sondern auch mit 5.000 Dollar nach Hause kommen. Die durfte sie zusätzlich zum Preisgeld behalten. Falls das Abenteuer überhaupt gelingen sollte. Annie Londonderrys außergewöhnliche Reise: Cover von Peter Zheutlins Biografie über seine Urgroßtante Anna Kopchovsky. © Citadel Press Wie die Romanautorin Susanna Leonard war auch Annie eine begeisterte Erzählerin, und ihre Abenteuer waren wirklich gut erfunden. Noch war die Welt nicht globalisiert und durch soziale Netzwerke verbunden, sodass kaum jemanden aufgefallen ist, wie sehr sich ihre Flunkereien unterschieden, wie unglaubwürdig ihre Zeit- und Ortsangaben mitunter waren. Auch Leonard muss allerhand erfinden, um den Roman unterhaltsam und informativ zu gestalten. Ihre einzige Quelle ist die Biografie eines Nachfahren von Anna Kopchovsky, ihres Urgroßneffen Peter Zheutlin, der sich für Around the World on Two Wheels auf erhaltene Zeitungsberichte und Annies (teilweise erfundene) Geschichten verlassen musste. Alles, was sonst im Netz zu finden ist, beruht auf Zheutlins Recherchen.
Leonard, die mit ihren historischen RomanenDer Biograf von Annie Londonderry, Peter Zheutlin, freiberuflicher Journalist in den USA. © Peter Zheutlin über Marie Curie und Diane Fossey bereits gezeigt hat, dass sie es versteht, historisch verbürgte Tatsachen flüssig zu erzählen und sich gleichzeitig in ihre Protagonistin hineinzuversetzen und auch zu erzählen, was nirgends geschrieben steht. Die von ihr beschriebenen Frauen dürfen träumen und denken, weinen und lachen, lieben und leiden. Zwar bilden die historisch belegbaren Fakten und Personen den Rahmen, für die Erzählung selbst ist jedoch die sogenannte  gleichgültig, die gute Erfindung ist der Kern.
Zu lesen ist die Geschichte einer mutigen, willensstarken Frau, die sich über Konventionen und paternalistische Vorschriften hinwegsetzt und sich die Freiheit nimmt, die nicht nur Männern zusteht. Cover des Buches über Anna Kopchovsky, genannt Annie Londonderry, von Susanna Leonard. @ Lübbe Leonard verschweigt nicht, dass der Preis für das Streben nach Selbstständigkeit und Glück recht hoch ist. Im Roman verliert Annie die Liebe ihrer Kinder, doch daran denkt sie während ihrer abenteuerlichen Reise nicht, im Gegenteil, sie erlebt eine nie gekannte Leidenschaft mit einem italienischen Schriftsteller, der sie begleitet, weil er ein Buch über ihre Tour de Force schreiben will. Doch Annie und ihr Begleiter geraten mitten in einen Krieg zwischen China und Japan, als sie von Port Arthur (heute der chinesische Hafen Dalian) aus nach Amerika übersetzen wollen. Annie hat überlebt, wird gefangen und eingesperrt. Der Geliebte bleibt verschwunden. Annie wird nie erfahren, ob er das Massaker, in das sie geraten sind, weil Annie, stur wie sie war, das gebuchte Schiff nicht versäumen wollte, doch überlebt hat. Falls es tatsächlich eine Reiseliebe gegeben hat, bewahrt Annie Londonderry darüber eisernes Schweigen.

Susanna Leonard: Die Radfahrerin. Annie Londonderry — Eine Frau. Ein Fahrrad. Einmal um die Welt. 400 Seiten. € 13,40. Lübbe, 2023. auch als E-Book erhältlich.
Peter Zheutlin: Around the World on Two Wheels. Annie Londonderry’s Extraordinary Ride, (Citadel Press) published in 2007.