Kent Haruf: „Ein Sohn der Stadt“, Roman
Von seinem ersten Roman an siedelt Kent Haruf seine Geschichten über das menschliche Wesen in der fiktiven Kleinstadt Holt im gebirgigen Bundesstaat Colorado an. So auch in seinem zweiten Roman „Where You Once Belonged”, in der deutschen Übersetzung „Ein Sohn der Stadt“ genannt. Hauptperson ist der charmante, doch rücksichtslose Jack Burdette, der sich im Städtchen als Fußballstar beliebt macht und dies so skrupellos ausnützt, dass er nicht nur ein Leben zerstört. Als zweite Romanveröffentlichung Harufs ist "Where You Once Belonged" 1990 in New York erschienen.
Während Harufs Romane von der Kritik und auch von den Preisjurys überschwänglich gelobt worden sind, konnten sie sich bei den Leser:innen nur langsam durchsetzen. Im deutschen Sprachraum bedurfte es seines 2015 postum erschienen Romans, „Our Souls at Night“ / „Unsere Seelen bei Nacht“ und dessen Verfilmung 2017 mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen, um die herzerwärmende fotorealistische Prosa Harufs einem großen Kreis bekannt zu machen. So erhalten deutschsprachige Leser:innen die Romane Harufs, der bevor zu veröffentlichen begannt, bei verschiedenen Institutionen als Lehrer gearbeitet hat, nahezu im Krebsgang. Zwar wurde „Plainsong“ (Nummer 3, veröffentlicht 1999) 2001 von Rudolf Hermstein unter dem Titel „Flüchtiges Glück“ für Goldmann übersetzt, doch hat der Roman sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum wenig Beachtung gefunden. 2017 hat sich der Schweizer Diogenes-Verlag Harufs außergewöhnlichen Œuvres angenommen und die Übersetzung der sechs Romane mit seinem jüngst erschienenen Werk begonnen. Inzwischen sind mit „Ein Sohn der Stadt“ fünf Romane übersetzt. Nur der Debütroman, den der Autor mit 41 Jahren herausgebracht hat, fehlt noch. Müßig ist es deshalb zu fragen, in welcher Reihenfolge man die Romane aus Holt lesen soll. Die Bilder des Lebens in der Kleinstadt und auf dem Land zeigen einfache Menschen die oft eine raue Schale haben, die leiden, lieben, erfolgreich oder vergeblich, und ihrem oft schweren Tagewerk nachgehen. Manche Personen sind ihrem Schöpfer besonders ans Herz gewachsen und er lässt sie immer wieder auftauchen. Lediglich „Plainsong“ – erschienen 1999, übersetzt als „Lied der Weite“ 2018 – und „Eventide“, 2004, deutsch „Abendrot“, 2019 – hängen durch die Hauptpersonen eng zusammen und sind auch in der richtigen Reihenfolge übersetzt. Für Diogenes hat die erfahrene Anglistin pociao gemeinsam mit Roberto dene Hollanda alle bisher erschienen Roman aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen. Die Kunst Harufs zeigt sich auch in dem 2015, ein Jahr vor seinem Krebstod, erschienen Roman „Benediction“ / „Kostbare Tage“. Haruf schildert darin die letzten Wochen des krebskranken Dad Lewis und schafft es, mit einer Geschichte über das Sterben einen tröstlichen Roman zu schreiben, der das Leben feiert.
Geboren ist der Sohn eines Methodistenpfarrers 1943 in Puebleo / Colorado am Zusammenfluss von Arkansas River und Fountain Creek, den größten Teil seines Lebens verbrachte er mit seiner Frau Cathy im 5000-Einwohner-Städtchen Salida, das ebenfalls am Arkansas River liegt. 2019 feierte Salida ein Kent-Haruf-Wochenende, um den Autor zu ehren, den die Bewohner:innen "als bescheidenen, großzügigen, freundlichen und talentierten Gentleman, der immer sehr am Leben anderer interessiert war“ in Erinnerung haben. Harufs Witwe hat zu Ehren ihres verstorbenen Mannes einen Stipendiumfonds für künftige Autor:innen eingerichtet.
Haruf erzählt ganz ohne Aufregung, auch von den unglaublichsten Ereignissen, ja von Gemeinheiten und Verbrechen, es sind nicht alle nett in und um Holt, aber fast alle halten durch, bemühen sich, ihr gewohntes Leben weiterzuführen und auch zu genießen. Ein leiser Humor, so eine buddhistische Gelassenheit durchziehen alle seine Romane, die nicht von den Schönen und Reichen handeln, sondern von einfachen Leuten, von Farmern, Tierärzten, Lehrerinnen, den Sorgen der Heranwachsenden, dem Kummer der Einsamen und auch der Verliebten. Sie alle erleben ihre Dramen, die kaum andere sind als die großer Tragödien und Epen. Der Mensch bleibt Mensch, ob er über die Meere zieht wie Odysseus oder aus Holt nicht herauskommt wie Dan Lewis.
Was den „Sohn der Stadt“ betrifft, so ist dieser Jack Burdette alles andere als ein Held, er ist schlicht ein sich selbst überschätzender, gemeiner Kerl, der lügt und betrügt und seine ewige Braut, die ihm die Schulaufgaben schreibt und seine dreckige Wäsche (und davon hat er zur Genüge) wäscht sitzen lässt, und nachdem er fremdes Geld verprasst hat, mit einer anderen als Ehefrau fröhlich antanzt. Erzählt wird die Geschichte ohne tröstliches Ende von Pat, dem jungen Herausgeber und Redakteur des Mercury Holt, der örtlichen Lokalzeitung. Er ist keineswegs distanzierter Beobachter, sondern mitten drin, denn als Jack mit dem Geld der landwirtschaftlichen Kooperative aus der Stadt verschwindet, verliebt sich Pat in die von Jack zurückgelassene Frau. Fast acht Jahre währt das Glück der beiden, doch dann taucht Jack wieder auf, tut, als wäre nichts gewesen, sein Diebstahl ist verjährt, Jessica, die er aus Übermut geheiratet hat, gehört ihm. Er entführt sie mit Gewalt und verschwindet aus der Stadt und lässt eine total zerrüttete Gesellschaft zurück.
Dieser zweite Roman Harufs, kommt, was Stil und Dramaturgie betrifft, noch nicht an die späteren Werke heran, doch geht es auch hier bereits um große Gefühle. Um Brutalität, Rücksichtslosigkeit, Gemeinheit, Egoismus Dummheit und Verblendung. Tröstlich ist nur die zarte Liebesgeschichte zwischen dem Erzähler und der zurückgelassenen Ehefrau, getrübt nur durch das Elend der im Lauf der Jahre verblühten Wanda Jo Evans, die diesem Ungeheuer ihr Leben geopfert und dennoch vergeblich auf den Heiratsantrag gewartet hat. Der Bericht spielt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vielleicht hätte Wanda Jo Evans diesen gemeinen Kerl heutzutage rechtzeitig hinausgeworfen, damit er sich seine Socken selber wasche.
Wie auch immer, Harufs Romane sind mit keinem anderen literarischen Werk gleichzusetzen. Er schildert den Alltag von alltäglichen Menschen mit alltäglichen Eigenschaften, die auch ihre Tragödien ohne großes Aufsehen erleben. Das Überraschende an allen diesen Geschichten aus Holt ist, dass sie überhaupt nicht langweilig sind, auch wenn das Leben der Menschen in und um Holt nicht geradea benteuerlich ist – von außen besehen. Doch die wahren Abenteuer sind wohl nicht nur im Kopf, sondern auch im Herzen.
Kent Haruf: „Ein Sohn der Stadt“, „Where You Once Belonged“, aus dem Amerikanischen übersetzt von pociao und Roberto de Hollanda, Diogenes 2021, 2. Auflage. 283 Seiten. € 24,70. E-Book: € 20.99