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Kent Haruf: „Ein Sohn der Stadt“, Roman

Kent Haruf in Salida, seinem letzten Wohnort in Colorado. © Cathy Haruf

Von seinem ersten Roman an siedelt Kent Haruf seine Geschichten über das menschliche Wesen in der fiktiven Kleinstadt Holt im gebirgigen Bundesstaat Colorado an. So auch in seinem zweiten Roman „Where You Once Belonged”, in der deutschen Übersetzung „Ein Sohn der Stadt“ genannt. Hauptperson ist der charmante, doch rücksichtslose Jack Burdette, der sich im Städtchen als Fußballstar beliebt macht und dies so skrupellos ausnützt, dass er nicht nur ein Leben zerstört. Als zweite Romanveröffentlichung Harufs ist "Where You Once Belonged" 1990 in New York erschienen.

Kent Haruf: Erstausgabe des Romandebüts " The Tie That Binds", 1984.  © Verleger Holt, Rinehart and Winston.

Während Harufs Romane von der Kritik und auch von den Preisjurys überschwänglich gelobt worden sind, konnten sie sich bei den Leser:innen nur langsam durchsetzen. Im deutschen Sprachraum bedurfte es seines 2015 postum erschienen Romans, „Our Souls at Night“ / „Unsere Seelen bei Nacht“ und dessen Verfilmung 2017 mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen, um die herzerwärmende fotorealistische Prosa Harufs einem großen Kreis bekannt zu machen. So erhalten deutschsprachige Leser:innen die Romane Harufs, der bevor zu veröffentlichen begannt, bei verschiedenen Institutionen als Lehrer gearbeitet hat, nahezu im Krebsgang. Zwar wurde „Plainsong“ (Nummer 3, veröffentlicht 1999) 2001 von Rudolf Hermstein unter dem Titel „Flüchtiges Glück“ für Goldmann übersetzt, doch hat der Roman sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum wenig Beachtung gefunden. 2017 hat sich der Schweizer Diogenes-Verlag Harufs außergewöhnlichen Œuvres angenommen und die Übersetzung der sechs Romane mit seinem jüngst erschienenen Werk begonnen. Inzwischen sind mit „Ein Sohn der Stadt“ fünf Romane übersetzt. Nur der Debütroman, den der Autor mit 41 Jahren herausgebracht hat, fehlt noch. Die Rocky Mountains durchziehen Colorado. Der Grays Peak ist der höchste Punkt,der nationalen Aussichtsstraße, die Nordamerika an der Westküste von Süden nach Norden durchzieht. © wikipedia Müßig ist es deshalb zu fragen, in welcher Reihenfolge man die Romane aus Holt lesen soll. Die Bilder des Lebens in der Kleinstadt und auf dem Land zeigen einfache Menschen die oft eine raue Schale haben, die leiden, lieben, erfolgreich oder vergeblich, und ihrem oft schweren Tagewerk nachgehen. Manche Personen sind ihrem Schöpfer besonders ans Herz gewachsen und er lässt sie immer wieder auftauchen. Lediglich „Plainsong“ – erschienen 1999, übersetzt als „Lied der Weite“ 2018 – und „Eventide“, 2004, deutsch „Abendrot“, 2019 – hängen durch die Hauptpersonen eng zusammen und sind auch in der richtigen Reihenfolge übersetzt. Für Diogenes hat die erfahrene Anglistin pociao gemeinsam mit Roberto dene Hollanda alle bisher erschienen Roman aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen. Yuma / Colorado. Örtliche Rezensenten vermuten in dem ländlichen Ort ein Vorbild für den fiktiven Handlungsort Holt der Romane Harufs . ©  kJeffrey Beall / Wikiipedia Die Kunst Harufs zeigt sich auch in dem 2015, ein Jahr vor seinem Krebstod, erschienen Roman „Benediction“ / „Kostbare Tage“. Haruf schildert darin die letzten Wochen des krebskranken Dad Lewis und schafft es, mit einer Geschichte über das Sterben einen tröstlichen Roman zu schreiben, der das Leben feiert.
Geboren ist der Sohn eines Methodistenpfarrers 1943  in Puebleo / Colorado am Zusammenfluss  von Arkansas River und Fountain Creek, den größten Teil seines Lebens verbrachte er mit seiner Frau Cathy im 5000-Einwohner-Städtchen Salida, das ebenfalls am Arkansas River liegt. 2019 feierte Salida ein Kent-Haruf-Wochenende, um den Autor zu ehren, den die Bewohner:innen "als bescheidenen, großzügigen, freundlichen und talentierten Gentleman, der immer sehr am Leben anderer interessiert war“ in Erinnerung haben. Harufs Witwe hat zu Ehren ihres verstorbenen Mannes einen Stipendiumfonds für künftige Autor:innen eingerichtet.
Jack Burdette, der "Sohn der Stadt", taucht nach acht Jahren in einem knallroten Cadillac wieder auf in Holt. Willkommen ist er nicht. © wikipediaHaruf erzählt ganz ohne Aufregung, auch von den unglaublichsten Ereignissen, ja von Gemeinheiten und Verbrechen, es sind nicht alle nett in und um Holt, aber fast alle halten durch, bemühen sich, ihr gewohntes Leben weiterzuführen und auch zu genießen. Ein leiser Humor, so eine buddhistische Gelassenheit durchziehen alle seine Romane, die nicht von den Schönen und Reichen handeln, sondern von einfachen Leuten, von Farmern, Tierärzten, Lehrerinnen, den Sorgen der Heranwachsenden, dem Kummer der Einsamen und auch der Verliebten. Sie alle erleben ihre Dramen, die kaum andere sind als die großer Tragödien und Epen. Der Mensch bleibt Mensch, ob er über die Meere zieht wie Odysseus oder aus Holt nicht herauskommt wie Dan Lewis.Pueblo am Arkansas River, Geburtsstadt Kent Harufs. Sicher ist auch der junge Kent im Mondenschein dem Fluss entlang spaziert. © John Wark / wikiwikipedia
Was den „Sohn der Stadt“ betrifft, so ist dieser Jack Burdette alles andere als ein Held, er ist schlicht ein sich selbst überschätzender, gemeiner Kerl, der lügt und betrügt und seine ewige Braut, die ihm die Schulaufgaben schreibt und seine dreckige Wäsche (und davon hat er zur Genüge) wäscht sitzen lässt, und nachdem er fremdes Geld verprasst hat, mit einer anderen als Ehefrau fröhlich antanzt. Erzählt wird die Geschichte ohne tröstliches Ende von Pat, dem jungen Herausgeber und Redakteur des Mercury Holt, der örtlichen Lokalzeitung. Er ist keineswegs distanzierter Beobachter, sondern mitten drin, denn als Jack mit dem Geld der landwirtschaftlichen Kooperative aus der Stadt verschwindet, verliebt sich Pat in die von Jack zurückgelassene Frau. Fast acht Jahre währt das Glück der beiden, doch dann taucht Jack wieder auf, tut, als wäre nichts gewesen, sein Diebstahl ist verjährt, Jessica, die er aus Übermut geheiratet hat, gehört ihm. Er entführt sie mit Gewalt und verschwindet aus der Stadt und lässt eine total zerrüttete Gesellschaft zurück. Später lebte Haruf mit seiner Frau, Cathy, in Salida. Dort fließt der Arkansas River mitten durch die Stadt. ©  Galt5 / Wikipedia i
 Dieser zweite Roman Harufs, kommt, was Stil und Dramaturgie betrifft, noch nicht an die späteren Werke heran, doch geht es auch hier bereits um große Gefühle. Um Brutalität, Rücksichtslosigkeit, Gemeinheit, Egoismus Dummheit und Verblendung. Tröstlich ist nur die zarte Liebesgeschichte zwischen dem Erzähler und der zurückgelassenen Ehefrau, getrübt nur durch das Elend der im Lauf der Jahre verblühten Wanda Jo Evans, die diesem Ungeheuer ihr Leben geopfert und dennoch vergeblich auf den Heiratsantrag gewartet hat. Buchumschlag der jüngsten Übersetzung eines Romans von Kent Haruf. © Diogenes VerlagDer Bericht spielt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vielleicht hätte Wanda Jo Evans diesen gemeinen Kerl heutzutage rechtzeitig hinausgeworfen, damit er sich seine Socken selber wasche.
Wie auch immer, Harufs Romane sind mit keinem anderen literarischen Werk gleichzusetzen. Er schildert den Alltag von alltäglichen Menschen mit alltäglichen Eigenschaften, die auch ihre Tragödien ohne großes Aufsehen erleben. Das Überraschende an allen diesen Geschichten aus Holt ist, dass sie überhaupt nicht langweilig sind, auch wenn das Leben der Menschen in und um Holt nicht geradea benteuerlich ist – von außen besehen. Doch die wahren Abenteuer sind wohl nicht nur im Kopf, sondern auch  im Herzen.

Kent Haruf: „Ein Sohn der Stadt“, „Where You Once Belonged“, aus dem Amerikanischen übersetzt von pociao und Roberto de Hollanda, Diogenes 2021, 2. Auflage. 283 Seiten. € 24,70. E-Book: € 20.99