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Kent Haruf: "Lied der Weite", Roman

Autor Kent Haruf © PhilippeMatsas_Opale_Leemage / Diogenes

Die 17jährige Victoria ist schwanger. Ihre Mutter wirft sie hinaus. Ihre Lehrerin Maggie hilft ihr, auf der Farm der McPhersons, zweier wortkarger Brüder, unterzukommen. Allmählich gewöhnen sich die beiden alten Männer an das junge Mädchen und freuen sich auf das Baby. Kent Haruf erzählt lapidar, und doch vibriert dieser Roman von Gefühlen. Einsamkeit und Liebe, Gewalt und Güte werden in Handlungen, Gesten und in den alltäglichen Verrichtungen spürbar. Haruf braucht in "Lied der Weite" kein Pathos, um Atmosphäre zu schaffen genügt die angenehme Klarheit, mit der er seine Sätze niederschreibt. Ein Meister, der im deutschen Sprachraum viel zu spät entdeckt worden ist. Kent Haruf ist 2014 im 70. Lebensjahr verstorben. Jetzt ist ein zweiter Roman auf Deutsch erschienen.

Das weite Land Colorados, Schauplatz aller Romane von Kent Harujf. © www pxhere.comGeboren ist Haruf in Colorado / USA, nicht weit vom Geburtsort, Pueblo, ist er dort auch in Salida gestorben. Irgendwo in Colorado, in der fiktiven Kleinstadt Holt, spielen auch alle seine Romane. 2017 hat Diogenes seinen letzten Roman, „Unsere Seelen bei Nacht“, herausgebracht. Der überraschende Erfolg der wunderbaren Geschichte einer späten Liebe macht Mut, einen weiteren Roman folgen zu lassen. Oder eher neu zu beleben, ist doch „Plainsong“ (Originaltitel) bereits 2001 bei Goldmann erschienen. Und gleich wieder verschwunden. Mit dem neuen Titel, „Lied der Weite“, der auch der Geschichte besser entspricht, sollte Harufs Beliebtheit auch im deutschen Sprachraum weiter steigen.Skyline von Denver, Hauptstadt von Colorado. © lizenzfrei

Nicht nur die junge Victoria steht im Mittelpunkt des Alltags in Holt, parallel wird auch von der Einsamkeit und den Sorgen zweier Brüder im Volksschulalter erzählt. Sie sind die Söhne eines Lehrers, und auch der spielt eine wichtige Rolle. Schon 1999, als der Roman in Amerika herausgekommen ist, herrschte an den Schulen Chaos und Gewalt. Guthrie, der Lehrer und Vater von Ike und Bobby, hat fast keine Chance gegen die Radaubrüder vorzugehen und auch die beiden Buben bekommen Gemeinheit, Sadismus und Brutalität zu spüren. Die Trauer, die sie umgibt, hat die depressive Mutter zu verantworten. Sie ist ausgezogen, wohnt nun in der Hauptstadt Denver und kann nicht genesen. Von Zeit zu Zeit wird sie von Ike und Bobby besucht. Wenn sie Geschenke bringen, muss sie weinen.

Pferde, auch tote,  spielen eine wichtige Rolle im Leben von Ike und Bobby. Dieses hier heißt Lessly und lebt in Oberösterreich. © privatAls Pendant agieren die beiden alten McPhersons auf ihrer Rinderfarm. Sie müssen von Maggie, der Lehrerin, die ein bisschen in ihren Kollegen Guthrie verliebt ist, erst gemahnt werden, mit ihrem Logiergast auch zu sprechen, bis sie etwas auftauen. Für Victoria werden sie mit eifriger Freude eine komplette Babyausrüstung kaufen. Wie aufgeregt sie sind, als Victoria die ersten Wehen spürt! Wie glücklich, als das neugeborene Mädchen den ersten Schrei tut. Das ist auch für die Leserin beglückend.

Das Palace Hotel in Salida, dort ist Kent Haruf 2014 gestorben. © www.colorfulcolorado.comDas Herz geht mir auf und ich spüre die Gefahr der Süchtigkeit nach Romanen von Kent Haruf. Sechs hat er geschrieben. Harufs lakonische Erzählweise, ohne in Gewalt und Blut zu schwelgen, übt einen Sog aus. Doch die alltägliche Aggression und Bosheit, die Verzweiflung, die Angst und den Tod lässt er keineswegs aus, ein hervorragender Beobachter der Realität und der Emotionen. Ich fühle mich mitten in Holt (oder Pueblo oder Salida), in der janusgesichtigen Gemeinschaft einer Kleinstadt, umgeben von der Tratschsucht der Bewohner*innen und auch der Hilfsbereitschaft. Am Rande der Stadt, einsam in der Landschaft gelegen, ist die McPherson Farm. Ike und Bobby reiten in Ihrer Trauer um eine tote Nachbarin, gemeinsam auf einem Pferd – das andere ist elend zugrunde gegangen –, die mehr als dreißig Kilometer dorthin. Sie haben sich verirrt, es ist schon Nacht, sie dürfen bleiben, der Vater holt sie am nächsten Tag. Ausgeschimpft werden sie nicht. Irgendeine Kleinstadt in Colorado, vielleicht Harufs Geburts Pueblo oder das erfundene Holt. © lLizenzfrei

Natürlich könnte man ewig weiterlesen, die Kinder und Erwachsenen bis in den Tod begleiten, doch das neue Baby beendet die neuen aufregenden Monate, die im schönen Lied der Weite, keineswegs trocken und humorlos, besungen werden. Als die McPhersons im Spital erfahren, dass Victoria ein Mädchen geboren hat, bemerkt Harold zu Raymond: „Ich glaube, wir haben gerade das Weibervolk in unserem Haus verdoppelt. Aber ich denke, wir können uns daran gewöhnen.“ Buchcover © Diogenes Verlag So geschieht es. Am Memorial Day gibt es ein Fest, das Holt noch nie gesehen hat. Es wird gegrillt und gelacht; Bobby und Ike sitzen mit dem Bay auf dem Schoß auf der Schaukel und der schon etwas demente alte Vater von Maggie ist auch da, sitzt allein am Tisch drinnen, weil die beiden Frauen, Maggie und Victoria, sich in der weichen Abendbrise die Gesichter kühlen. Bald wird an diesem letzten Tag im Mai, rund 30 Kilometer von Holt entfernt, zu Tisch gerufen werden.

Kent Haruf: „Lied der Weite“, übersetzt von Rudolf Hermstein, Diogenes 2018. 380 S. 24,70 €