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Joachim B. Schmidt: „Tell“, Roman

Romanautor Joachim B. Schmidt. © Eva Schram/Diogenes Verlag

Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“, oder auch „Verbunden werden auch die Schwachen mächtig.“ Die Zitate aus Friedrich Schillers Drama „Wilhelm Tell“ sind längst in den Sprachgebrauch übergegangen, doch der aufmüpfige Bauer Wilhelm Tell bleibt Papier, die Figur eines Dramas, eine eindrucksvolle Rolle für Schauspieler. Für Schweizer:innen ist er auch nicht viel lebendiger, ein Nationalheld eben, ein Denkmal. In Schulbüchern und auf Spielkarten konserviert. Mit seinem Roman „Tell“ haucht der Schweizer Autor Joachim B. Schmidt seinem Protagonisten Leben ein und zeigt einen Menschen, der eine Familie hat, für diese sorgt, doch sein eigener Herr sein will und sich nicht unterkriegen lässt. Doch „Allzu straff gespannt zerspringt der Bogen.“

Ein Denkmal für Wilhelm Tell in Altdorf, dem Hauptort des Schweizer Kantons Uri. © wikipediaJoachim B. Schmidt ist 1981 in Graubünden geboren und lebt mit seiner Familie in Reykjavik. Er ist also sowohl mit dem Schweizer wie mit dem nordischen Sagenkreis vertraut. Das Motiv vom Apfelschuss ist mehreren europäischen Sagen gemeinsam. Sie stimmen darin überein, dass der Held einen Apfel vom Kopf seines Kindes zu schießen hat und dass er einen Pfeil bereithält, um im Falle eines Fehlschusses denjenigen zu töten, der ihm den Befehl gegeben hat. In allen Sagen gelingt der Meisterschuss.
Zur Erinnerung: Schiller kannte die Quellen wohl, nicht nur im Drama wird Tell, der den Hut des Landvogtes nicht grüßen will, gezwungen, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen. Befohlener Kindsmord? Ein Motiv, das schon im Alten Testament vorkommt. Dort ist es gar ein Gott, der Abraham befiehlt, seinen Sohn zu opfern, nicht mit Pfeil und Bogen, sondern im Feuer. Wie Tell beugt sich Abraham dem Befehl. Beide Geschichten haben im Moment ein glückliches Ende, doch über die Traumatisierung von Abraham und seinem Söhnchen Isaak erfährt man nichts. Allerdings, wer machte sich schon vor mehr als 2000 Jahren und auch noch zu Tells Lebzeiten schon Gedanken um Verletzungen und um Kindeswohl? Damit die Frage nicht rhetorisch bleibt: Niemand. Tells Familie. Illustration von Philip Dadd für das Buch "William Tell Told Again" von P. G. Wodehouse, 1904. © gemeinfrei
Anders bei Schmidt, der Walter, den ältesten Sohn Wilhelms, besonders liebevoll behandelt und den Heranwachsenden als einen tapferen und verantwortungsbewussten Buben darstellt. Wobei Wilhelms Vaterschaft ziemlich unsicher ist, gab es da doch seinen jüngeren Bruder, der in den Bergen umgekommen ist und nur noch als Geist erscheint.
Den Quellen entsprechend teilt der Autor von „Tell“ auch mit, wann die aufregende Geschichte geschehen ist: Einer der Büttel des Landvogts Gessler erwähnt die berühmte Schlacht bei Dürnkrut und Jedenspeigen in Niederösterreich. Volksschulwissen: „Die größte Ritterschlacht in Europa“. Im Sommer 1278 hat der römisch-deutsche König Rudolf I. von Habsburg den böhmischen König Ottokar Přemysl besiegt und damit den Grundstein für die Herrschaft der Habsburger in Österreich gelegt. Durch die Legende vom Rütlischwur, für den angeblich Gesslers Ermordung durch Tell den Anstoß gegeben hat, darf man sich auch vorstellen, wo der Tellhof am Berg gestanden ist, nämlich im Kanton Uri, einen Fußmarsch vom Vierwaldstättersee entfernt.Wilhelm Tell, Schauspiel von Schiller. Zum Neujahrsgeschenk auf 1805", Erstausgabe.  © gemeinfrei / wikipediaDer Autor verbirgt sich hinter all jenen, die Tell kennen, ihm begegnet sind, die Ereignisse miterlebt haben oder gar beteiligt waren. Tells Mutter und seine Frau erzählen, der tapfere Sohn Walter als zentrale Figur, Hermann Gessler natürlich und seine Soldaten, der Dorfpfarrer, ein Schulkollege Tells, und seine Wirtschafterin, 20 Personen kommen zu Wort, nur einer spricht nicht: Tell. Dennoch kommt er uns ganz nahe, ein Held, der gar keiner sein will, der seine Ruhe haben und genug zu essen haben will. Doch die Umstände sind nicht so, die übermütigen Soldaten sind gekommen, um das geschossene Wild zu rauben und Tell zu verprügeln. Das Desaster ist programmiert. Das erste Opfer ist Tells alte Mutter, die sich den Marodierenden entgegenstellt.Wilhelm Tell als Eichel Ober im doppeldeutschen Kartenspiel, 1864. © Piatnik / ggemeinfrei
Alle, die der Autor zu Wort kommen lässt, sprechen in der Gegenwart und lassen den Zuhörer:innen auch ihre innersten Gedanken wissen, die sind dadurch mitten im Geschehen, sind empört und gerührt, müssen schmunzeln und hoffen bis zum Ende, dass alles wieder gut wird. Schmidt behandelt sein Personal mit Empathie, verleiht jedem und jeder einzelnen Authentizität und verzichtet auf Holzschnitzerei und Schwarz-Weiß-Malerei. Als Leserin befindet man sich im Nu im Mittelalter, als der Mensch, so er nicht zur herrschenden, ausbeutenden Klasse zählte, weder Grund- noch sonstige Rechte hatte. Eigene Gedanken, Bedürfnisse und Träume hatten sie dennoch.
„Tell“ kann als Krimi gelesen werden, aber auch als Sittenbild einer Zeit. Schmidts Roman ist kein historischer Roman, alle Figuren sind Fiktion, doch der Autuor haucht der Titelfigur mit allen, die in dieses grausame Spiel mitspielen müssen, Leben ein, gibt ihnen Gedanken und Gefühle und lässt sie eine lesenswerte Geschichte erzählen. Im letzten, dem 10., Kapitel, gibt es eine Überraschung, ein kurzes Aufblitzen zweier Namen, die eingefleischte Schweizer:innen kennen. Primarschulwissen quasi. Friedrich Pecht: Gessler. Schiller-Galerie. Charaktere aus Schiller’s Werken, gezeichnet von Friedrich Pecht und Arthur von Ramberg. Fünfzig Blätter in Stahlstich mit erläuterndem Text von Friedrich Pecht. F. A. Brockhaus, Leipzig 1859. © wikipedia / gemeinfrei
Lotta, die zum Erzählzeitpunkt steinalte Tochter Tells, die letzte Überlebende der Tell-Familie, hat der Autor mit Theodor Tschudi verheiratet. Auch der ist schon tot, erzählt sie, dem Amtsschreiber Schriber, der ihre Ruhe auf dem Hausbankerl stört, weil er die Geschichte von Tell erforschen möchte. Doch Lotta lügt ihn gekonnt fort. Sie behauptet, dass der Tell-Hof hinter dem Berg läge. Die Namen Tschudi und Schriber jedoch sind historisch. Lottas Mann, falls sie nicht gelogen hat, muss ein Vorfahre des schweizerischen Historikers Aegidius Tschudi (1505–1572) sein, Schutzumschlag "Tell". © Diogenes Verlagder Autor des „Chronicon Helveticum“, ein Werk, das 470 Jahre Schweizer Geschichte beinhaltet und wesentlich zur Verbreitung der Tell-Legende beigetragen hat. Selbst in den Annalen vermerkt ist der Amtsschreiber ob Walden (Obwalden) Hans Schriber, Autor des „Weissen Buches von Sarnen“, in dem um 1470 die Tell-Legende zum ersten Mal niedergeschrieben worden ist. Er ist vor 1479 gestorben. Da überbrückt Joachim B. Schmidt in kühnen Sprüngen die Jahrhunderte und lässt seine Leser:innen, um einiges Wissen und auch Lesevergnügen reicher, im Heute aufwachen.

Joachim B. Schmidt: „Tell“, Diogenes 2022, 288 Seiten. € 23,70. E-Book € 19,99.