Eva-Maria Schaller: Ich, das sind viele
Verwirrendes Chaos. Im Tanzkörper von Eva-Maria Schaller sind persönliche Erinnerungen und auch die gesamte Tanzgeschichte gespeichert, Fragmente eines Puzzles. O! A Biography, nennt die Tänzerin und Choreografin ihr Opéra-ballet. Wobei O! nicht nur für einen Ausruf des Erstaunens, sondern auch für Orlando, die Fantasiefigur in Virginia Woolfs gleichnamigen Roman. Im Rahmen von wien modern ist das Opéra-ballet (O! Noch ein O) im Tanzquartier uraufgeführt worden.
Orlando also, der Jüngling, die Frau, der / die immer wieder in einem anderen Jahrhundert erwacht, Orlando ist nicht zu fassen. Dass sich die Choreografin von der Autorin inspirieren ließ, ist leicht zu verstehen. Orlando, der junge Adelige, geistert durch die Zeit und ist Frau und Mann zugleich. Auch in Schallers groß angelegter Choreografie ist die Zeit aufgehoben und das Ich in ein Puzzle zerlegt. Die Erinnerungen, persönliche und historische, wirbeln durcheinander. Die von Matthias Kranebitter komponierte Musik feuert das verwirrende Chaos an. Gespielt wird die Komposition von Kranebitters Black Page Orchestra – 12 Musikerinnen plus Kranebitter am Elektronik-Board –, getanzt wird von 12 Studentinnen des Studiengangs Tanz an der MUK. Sie sind die Erinnerungen, bewegen sich tranceartig, rasen durch Zeit und Raum, finden zusammen, werden zum kompakten Erinnerungskörper, driften wieder auseinander, tanzen fröhlich im Kreis wie Kinder. Schaller tanzt wenig, erzählt viel und hat als Pendant den Tänzer Mani Obeya eingeladen. Dem Subtitel Opéra-ballet wird der Countertenor singend und mittanzend gerecht.
Virginia Woolf hat ihren Roman, erschienen 1928, als fiktive Biografie ihrer Freundin und Geliebten Vita Sackville-West gewidmet: „Eine Biografie, die im Jahr 1500 beginnt und bis zum heutigen Tag fortsetzt, genannt Orlando. Vita; nur mit einer Veränderung von einem Sex zum anderen.“ (Übersetzt aus Karen Karbo : In Praise of Difficult Women: Life Lessons From 29 Heroines Who Dared to Break the Rules. Washington, D.C, 2018.) 1992 hat Sally Potter Woolfs Roman mit Tilda Swinton in der Titelrolle verfilmt. Orlandos Wechsel von Zeit, Raum und Geschlecht darzustellen, macht im Film keine Schwierigkeiten. Auf der Bühne ist das nicht so einfach. Schaller muss Text zu Hilfe nehmen, zitiert ihre eigenen Erinnerungen an Rollen im Tanzstudio und auf der Bühne und auch Passagen aus Woolfs Roman. Die Verwirrung bleibt. Die Tänzerin Eva-Maria Schaller ist ein Puzzle aus vielen Figuren. Sie ist ein Zwerg aus Richard Wagners Oper „Das Rheingold“, ein Trommelbube, vielleicht aus dem Ballett „Die Puppenfee“, weniger lustig war es für die kleine Eva-Maria, als Hinterteil eines Tigers im Gleichschritt mit dem Kopf zu tanzen. Das Licht (Design: Jan Wagner) taucht die Gruppe in geheimnisvolles Grün, als wären Nixen unter Wasser, es leuchtet intensives Violett, helles Weiß, bis die Scheinwerfer verlöschen und die Tänzerinnen zu Schatten werden.
Schallers Erinnerungen sind nicht nur privat, ihr Körper hat auch die gesamte Tanzgeschichte eingeschrieben. Schon 2018 hat sie sich ins 18. Jahrhundert begeben und mit Vestris 4.0, an den Tanzgott Auguste Vestris erinnert. Mit Recalling Her Dance hat sie an die Wiener Tänzerin und Nazigegnerin Hanna Berger erinnert. Mit dem Gestell für Reifröcke erinnert in der einstündigen Aufführung die Gruppe der jungen Tänzerinnen an die höfischen Tänze. Auch wenn die Tänzerinnengruppe immer wieder zu Synchronität und Ordnung findet, im Orchester mitunter Takte bekannter Melodien auftauchen, wird das Chaos in meinem Kopf immer unentwirrbarer. Dieses Ich, wie es selbst immer wieder betont, ist viele Ichs,Doch dann springt auch mein Gedächtnis an: François Chaignaud & Nino Laisné: Romances inciertos, un autre Orlando, ein getanztes Konzert. Wer das Glück gehabt hat, diese/n „andere/n Orlando“ 2018 im Rahmen des ImPulsTanzFestival im Volkstheater bestaunen zu dürfen, wird sie / ihn immer in Erinnerung behalten.
Eva-Maria Schaller hat in vielen Auftritten bewiesen, welch großartige Tänzerin sie ist und hat in Solos und Gruppenchoreografien auch gezeigt, dass sie eigene Stücke kreieren kann. Erinnerungen, auch die des Körpers, sind nicht festgeschrieben, sind flüchtig und wandelbar wie der Tanz. Indem sie hervorgeholt werden, verändern sie sich. Persönliches ist von Öffentlichem kaum mehr zu trennen, das Publikum verirrt sich zwischen den rauschenden Tönen im Orchester und den rasenden Schritten der Schatten auf der Bühne. Welches Ich kann das alles erfassen und einordnen: Tanz im fahlen Licht, Musik wie ein Gewittersturm, dazu Gesang und Text, Zu viel Text. Tanz und Musik wirken auf der Gefühlsebene, Text jedoch auf den Verstand. Beides zugleich schafft Verwirrung statt Klarheit.
Eva-Maria Schaller / Matthias Kranebitter: O! A Biography, Opéra-ballet, Uraufführung. 15., 16. November 2024, Tanzquartier in Kooperation mit wien modern.
Konzept, Choreografie, Tanz Eva-Maria Schaller; Komposition Matthias Kranebitter
Tanz Mani Obeya; Studierende des Studiengangs Tanz an der MUK – Anna Cimmino, Clarissa Beisteiner, Claudia Antonica, Gina Lou Remund, Gloria Marie-Elaine Berghäuser, Helena Vancura, Jessy Yang, Leah Pauline Wagner, Michael Voit, Mireia Miltner, Paola Floreani, Polina Samoidiuk
Countertenor Georg Bochow
Musik Black Page Orchestra; Dirigentin Irene Delgado-Jiménez
Dramaturgie Anita Buchart; Choreografische Assistenz; Probenleitung Laura Vilar, Alberto Cissello; Ausstattung Gabriela Neubauer, Helena Sophia Adam; Lichtdesign Jan Wagner
Fotos: © Apollonia Theresa Bitzan