Warmes Blut im Schnee, kalte Asche im Gedächtnis
Was immer die Slow Horses treiben, es kommen nicht alle zurück nach Slough House, wo Jackson Lamb, ungewaschen und unfreundlich, doch überaus besorgt, auf seine Joes wartet. Gemächlich fängt der sechste Fall für Jackson Lamb in der Reihe der Spionageromane von Mick Herron an. Doch wenn sich Louisa Guy aufmacht, den Sohn ihres toten Geliebten zu suchen, fallen sämtliche Pferde in Galopp, und auch der Schnee in Wales kann sie nicht aufhalten. In Joe Country herrscht nicht nur Düsternis und Todesangst, auch Liebe und , und der beißende Witz des Autors haben Platz.
Wenn Spook Street der Ort ist, an dem Spione leben, dann ist Joe Country der Ort, an dem sie sterben (zitiert aus https://spywrite.com/).
Joes, das sind die Spione, und wenn sie im Außendienst sind, dann ist ihr Einsatzort das Joe Country. Ein feiner Titel für einen Thriller, in dem Spione jeglicher Art, aktive, ausgemusterte, schlafende und tote, eine Rolle spielen. Das Stammquartier der Ausgemusterten (Spione werden nicht entlassen, das würde Staub aufwirbeln), ein heruntergekommener, mehrstöckiger Schuppen in der Aldersgate Street nahe der Londoner Underground-Station Barbican in London, ist Slough House (Sumpf-Haus). Dort herrscht Jackson Lamb, wie alle seine „lahmen Pferde“ vom MI5, dem britischen Inlandsgeheimdienst, wegen eines Fehlers ins sumpfige Exil geschickt. Allerdings ist Lamb weniger ein langsames denn ein altes Pferd und weiß daher viel zu viel über die Machenschaften im Mi5, vor allem während des kalten Krieges. Andeutungen macht der Autor vor allem in den beiden eingefügten, jedoch noch nicht übersetzten Kurzgeschichtenbänden, The List und The Marylebone Drop. Die Methode Herrons ist perfid. Er präsentiert in aller Ruhe unterschiedliche Handlungsstränge, um diese allmählich zusammenzuführen, während er von einem Schauplatz zum anderen galoppiert. Selbst im diesmal verwirrenden und für Freund und Feind tödlichen Showdown sorgt er mit Cliffhängern für eine schlaflose Nacht. Die anfängliche Ruhepause nützt Herron diesmal, um die Charaktere und Schicksale der einzelnen Joes, männlichen wie weiblichen, zu vertiefen. Die von Beginn an, damit ist der erste Band, Slow Horses, gemeint, von Jackson Lamb gequält und verachtet werden, River Cartwright, die genannte Louisa Guy oder Roddy Ho, das IT-Genie, kennen die Leser schon ziemlich gut und wissen auch, dass sie nicht so schnell den Geist aufgeben werden, denn die Leserin braucht Identifikationsfiguren, die sie wieder treffen will. Herron wird uns nicht alle nehmen, selbst wenn sie nicht alle sympathisch sind, doch auch der grantige Zyniker Jackson Lamb ist irgendwo tief drinnen ein Mensch. Das zeigt sich, wenn eine(r) seiner Joes in Gefahr ist, da macht er den Nasenbohrern in den Kammern von Slough House Beine. Da ist dann River Cartwright mit vorne dabei. Auch diesmal reist er im Auto von Roddy, der sich noch nicht vor seinem Sturz in die Honigfalle erholt hat, nach Wales, Louisa zu Hilfe. Den trifft er dort mitten im Schnee nicht, aber den Ex-CIA-Agenten und leiblichen Vater, Frank Harkness. Der ist das Böse an sich und jagt den jungen Harper mithilfe einer Söldner-Truppe. Vater und Sohn, Frank und River stehen einander Aug in Aug gegenüber, bereit zu töten, um zu überleben. River muss überleben, er ist eine zentrale Figur im Slough House, Frank verschwindet, ob tot oder lebendig, bleibt der Leserin überlassen. Ich vermute, angeschlagen, aber lebendig. Er wird als Bösewicht noch gebraucht. Franks geliebter Ziehvater, der einstige Meisterspion David Cartwright und zugleich sein Opa, darf noch einmal auftreten. Waagrecht allerdings. Der OB (Old Bastard) liegt in der St. Leonard's Church und wartet in seinem Gehäuse, sich zu all den anderen Joes, die in der kleinen Kirche in Hampstead still und leise begraben werden, zu gesellen. Slough-House-Kenner: innen nennen hinter Hecken liegenden Ort auch gern Spook’s Chapel.
Dass auch der gefährliche Ex-Spion Frank Harkness für die Jagd nach Min Harpers 17-jährigen Sohn Auftraggeber hat, wird bald klar, und wenn wir erfahren, warum Lucas gefunden werden muss, kann man sich des Schmunzelns nicht erwehren. Ein Royal hat sich bei einer Party danebenbenommen und Lucas, der sich durch das Herumreichen von Petits Fours und Champagnergläsern ein paar Euro verdient hat, war Augenzeuge. Dass er den Einsatz seiner Handykamera auch zu Geld machen wollte, hat ihn zum verfolgten Wild gemacht. Herron ist in all seinen Jackson-Lamb-Romanen, die zwischen Regent’s Park, dem Sitz des MI5, und Aldersgate, wo das Slough House steht, spielen, so hart an der Realität, dass man manche Passagen von den täglichen Berichten englischer Zeitungen nicht mehr unterscheiden kann. Im Gegensatz zu anderen Autoren von Spionagethrillern, war Herron, geboren 1963 in Newcastle-upon-Tyne, niemals als Agent oder Politiker tätig, er hat nur das Glück, informierte Berater:innen und Informant:innen gefunden zu haben. So scheinen die Intrigen und Lügen, die Vertuschungs- und Täuschungsmanöver im Geheimdienst und der hohen Politik, wovon der Geheimdienst (MI5 = Military Intelligence, Section 5) schließlich abhängt, und in die die obersten Gremien auch hineinreden, ganz real. Doch von den Lügen, der Machtgier und Menschenverachtung in einem Roman zu lesen, ist in jedem Fall angenehmer, ja erheiternder als in einem Informationsblatt, zumal Herron tatsächlich über den Esprit gaulois verfügt, der, selbst wenn der Schnee fällt und das Blut tropft, immenses Vergnügen bereitet.
Band 7, Slough House, wartet bereits auf die Übersetzung. Bisher sind sämtliche Bände von Stefanie Schäfer übersetzt worden. Sie muss diese Slow Horses ebenso lieben wie ihr Schöpfer, lässt sie sein, wie sie sind und die Sätze fließen, als wär’s das Original.
Mick Herron: Joe Country – Ein Fall für Jackson Lamb, aus dem Englischen von Stefanie Schäfer. 480 S., Diogenes, 2023. € 18,50. E-Book: € 14. 99. Filmbilder: © Apple TV+ / radiotimes.com
Autorenporträt: © AP Fotoː Matt Dunham / seattletimes.co