Samson mittendrin und Nadjeschda verschwunden
Der ukrainische Autor Andrej Kurkow schreibt über den Krieg. Es ist nicht der aktuelle Krieg, ein von Russland ausgelöster Angriffskrieg, von dem er erzählt, sondern von einem Krieg, der vor mehr als hundert Jahren in der Ukraine stattgefunden hat, als 1917 nach der sogenannten Oktoberrevolution das große Chaos ausgebrochen ist. Mittendrin versucht der Polizist Samson seine Nadja zu finden und zu überleben. Samson und das gestohlene Herz (сердце не мясо / Das Herz ist kein Fleisch) ist die Fortsetzung des Romans Samson und Nadjeschda von Andrej Kurkow und ebenso herzzerreißend wie herzerwärmend.
Eine Revolution ist nicht an einem Tag erledigt, und auch die Loslösung der Ukraine von Mütterchen Russland und die Wandlung in einen souveränen Staat ist ein schwieriger, langwährender Prozess. In den Jahren 1919/ 20 herrscht vor allem das Chaos. Alle wollen an die Macht, die Bolschewiki und die Miliz, die Weißen und die Roten, die Soldaten und die Polizisten, die Bevölkerung fürchtet sich vor allen, und Samson, dem ein Ohr abgesäbelt worden ist, das er in einer Schachtel aufbewahrt, wo es, das Ohr (!) so manches hört, was nicht dafür bestimmt ist, muss täglich neue Gesetze lernen und weiß am Morgen nicht, wer am Abend das Sagen haben wird. Das neueste Gesetz verbietet den Verkauf von Fleisch, und Samson wird abgestellt, um die Fleischsünder ausfindig zu machen. Das Problem ist, dass niemand so genau sagen kann, ob alles, was vom Tier verzehrbar ist, auch unter das Fleischverbot fällt. Herz, zum Beispiel, ist doch kein Fleisch, oder doch? Die Fleischfrage tritt allerdings schnell in den Hintergrund, als Samson erfahren muss, dass seine geliebte Nadjeschda von wild gewordenen Bahnpolizisten entführt worden ist. Da müssen korrupte Fleischverkäufer, diebische Soldaten und fleischhungrige Bürger:innen warten. Schließlich will Samson Nadja heiraten, ihre Eltern sind einverstanden, seine leben nicht mehr. Gegen alle Widerstände, unter immer wieder ausbrechenden Kugelhageln und sekkanten Vorgesetzten erfüllt Samson seinen Dienst, sucht Mörder und verhaftet Fleischsünder, findet seine Nadja und auch einen atheistischen Geistlichen, der die beiden traut. Dass sie nun zu dritt in Samsons Wohnung leben, liegt an seiner Gutherzigkeit. Er hat den Watruchin, der, obwohl Augenarzt, Samsons Ohr gerettet hat, bei sich aufgenommen. In den wirren Zeiten sind Ärzte rar, werden aber dringend benötigt. Watruchin, ein anständiger und hilfsbereiter Kerl, ordiniert jetzt bei Samson und Nadja. Bezahlt wird er nicht immer, doch er bekommt Geschenke, Obst oder Brot, und so profitiert auch das junge Ehepaar von dem Untermieter.
Samson und Nadjeschda verstehen nicht wirklich, was vor sich geht und wissen auch nicht, wem sie noch trauen können. Gefangene werden plötzlich entlassen, Vorgesetzte werden verhaftet, oben streiten sie um die Macht und unten frieren die wahren Leidtragenden ohne Strom in kalten Wohnungen und wissen nicht, was sie ihren Kindern zum Essen geben sollen. All die Wirrnisse, die Gewalt, das Morden, Rauben und die Ungewissheit können Samson sein Mitgefühl, sein Bewusstsein, ein Mensch unter Menschen zu sein, nicht nehmen. Dass sich täglich die Gesetze ändern und er gerügt wird, weil er sie am Vortrag nicht befolgt hat – »Wisst ihr etwa nicht, dass man solche Befehle auch rückwirkend ausstellen kann?« murrt der Vorgesetzte – erträgt er mit Gleichmut. Kurkow beobachtet Krieg und Revolution, Korruption und Willkür mit Gelassenheit und Augenzwinkern. Über allem steht die Liebe von Samson und Nadja und deren Kampf ums Überleben, ohne zum Wolf unter Wölfen zu werden und sich selbst zu verraten. Kurkow befasst sich mit der großen Politik, zieht auch keine Parallelen zum aktuellen Krieg in der Ukraine, den Russland mit einem Überfall begonnen hat, der Autor konzentriert sich auf die Menschen, die kleinen Leute, die versuchen, sich im Chaos zurechtzufinden. Dass Samson am Ende des Romans ein Todesurteil unterschreiben muss, beschert ihm Albträume, doch das Ende ist nicht das Ende und die Hoffnung darf niemals sterben. Schließlich sind am Tag zuvor 28 Rotarmisten aus der Badeanstalt verschwunden. Offenbar nackt, denn die Uniformen haben sie zurückgelassen. Möglicherweise erzählt Kurkow in der letzten als Trilogie geplanten Geschichten von Samson und Nadjeschda, dass der wegen des verbotenen Fleischhandels zum Tod verurteilten Briskin wie die Rotarmisten fliehen kann, hoffentlich sogar samt seinen Kleidern. In Kiew und dem nach Autonomie strebenden Staat Ukraine, eingeklemmt zwischen Russland und Polen, ist noch lange keine Ruhe, Krieg und Chaos herrschen auch jetzt gerade wieder. Samson und Nadja werden Kinder und Enkelkinder haben und Andrej Kurkow kann, falls er Lust hat, den Faden immer weiterspinnen. Der Mensch lernt nichts dazu, die Geschichte wiederholt sich in einem unendlichen Kreislauf.
Andrej Kurkow: Das gestohlene Herz / сердце не мясо = Serdce – nje mjaso = Das Herz ist kein Fleisch, aus dem Russischen von Johanna Marx und Claudia Zecher. Mit Illustrationen von Juri Nikitin. 432 Seiten. Diogenes 2023. € 24,70. E-Book € 20,99.