Zeichnen und Malen, wenn die Geister flüstern
Die schwedische Malerin Hilma af Klint gibt der Kunstkritik noch immer Rätsel auf. Sie wird ebenso als „Pionierin der abstrakten Malerei“ gefeiert wie wegen ihres Hangs zu Spiritismus und dem theosophischen Okkultismus aus der Kunstgeschichte ausgeklammert. Drei amerikanische Autorinnen haben sich für ihren Roman „Hilma“ genau auf die esoterischen Seiten af Klints, die Séancen und das von den gerufenen Geistern animierte automatische Zeichnen und Malen, konzentriert. Sofia Lundberg, Alyson Richman und M. J. Rose haben mit „Hilma“ eine auf den wenigen vorhandenen Daten basierende Fiction gebastelt, die, wie af Klints Bilder, besonders Leserinnen mit Liebe zur Mystik ansprechen wird.
Auch wenn af Klint ihre Bilder zu Lebzeiten (1862–1944) niemals öffentlich ausgestellt und auch verfügt hat, dass ihr Werk frühestens 20 Jahre nach ihrem Tod gezeigt werden dürfe, ist sie jetzt weltweit bekannt. 1984 hat der Kunsthistoriker Åke Fant anlässlich einer nordischen Konferenz in Helsinki Bilder von Hilma af Klint öffentlich gezeigt. Damit begannen sich die Marketingmaschinen zu drehen und bald gründete der Neffe und Erbe der Malerin die Hilma af Klint Stiftung, die das aus mehr als eintausend Werken bestehende Œuvre der Malerin sorgsam hütet. Im deutschsprachigen Raum wurde af Klint dem kunstinteressierten Publikum erstmals im Jahr 1995 bei der großen Ausstellung Okkultismus und Avantgarde in Frankfurt vorgestellt. Das Moderna Museet in Stockholm reagierte 2013 mit einer großen Retrospektive auf das steigende Interesse an der Malerin. 2018 eroberte Hilma af Klint die USA. Die Show „Hilma af Klint: Pictures for the Future“ im New Yorker Guggenheim Museum war mit mehr als 600.000 Besucher:innen die meistbesuchte Ausstellung in der Geschichte des Museums. Was den Katalogabsatz betrifft, löste af Klint den bisherigen Bestseller Wassily Kandinsky ab; die Zahl der Freunde des Museums („Memberships“) stieg um 34 Prozent. 2020 wurde die gleichermaßen als Pionierin der abstrakten wie der mystischen Kunst eingeordnete Malerin endgültig durch die Wissenschaft in den Kunsthimmel gehoben. Die Journalistin, Kunstkritikerin und Wissenschaftshistorikerin Julia Voss stellte af Klint in einer umfassenden, mit Lob überschütteten Biografie vor: „Hilma af Klint – Die Menschheit in Erstaunen versetzen“, S. Fischer, 2020, 6. Auflage, 600 S. € 33,50. Zugleich kam auch der Film von Halina Dyrschka, „Jenseits des Sichtbaren – Hilma af Klint“ in die Kinos. Als Entdeckung kann Hilma af Klint kaum noch verkauft werden.
Die eigene Sprache, die sie und der Kreis um sie erfunden hat, inspiriert auch junge Performance-Künstler. Allerdings fehlen immer noch Hinweise auf das „automatische Malen“ und die Aufarbeitung der Beteiligung der Frauen von „De Fem“ („Die Fünf“). Darum bemühen sich die drei Autorinnen im aktuellen Roman. Sie geben Anna, Cornelia, Mathilda und Sigrid Konturen und eine Biografie. Aus dem Leben dieser Vier ist nicht gar so viel bekannt, die Löcher, die es zu füllen gilt, sind tief, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Auf Hilmas Ausbildung an der Schwedischen Kunsthochschule und der Königlichen Akademie der freien Künste in Stockholm, die sie 1987 abgeschlossen hat, gehen die Autorinnen nicht ein. Die ersten Bilder, naturalistische Landschaften, passten nicht ins Profil der Mystikerin. Allerdings hat sich Hilma bereits mit 17 Jahren an Séancen beteiligt, der frühe Tod ihrer Schwester Hermine hat ihr Interesse an Spiritismus geweckt. Der Roman beginnt mit den ersten Sitzungen an einem Freitagabend, an denen af Klint mit ihrer Freundin Anna Casell, ebenfalls eine Malerin, teilnahm. Zur „Freitagsgruppe“, die sich ab 1896 „De Fem“ genannt hat, gehörten die Schwestern Cornelia Cederberg und Mathilda Nilsson, geb. Cederberg, ein hochrangiges Mitglied in der Stockholmer spiritistischen Gesellschaft, sowie Sigrid Hedman, die als Medium Botschaften von Geistern erhielt. Die beiden Geister haben angeblich mehrmals durch das Medium gesprochen und sich dabei mit ihren Namen, Amaliel und Georg, vorgestellt. Sie haben versprochen, den Frauen zu helfen, „das Geistige in der Kunst“1) zu finden.
Als Würze entpuppt sich schnell die zweite Ebene des Romans, ein Sprung über hundert Jahre in die Gegenwart. Die große Retrospektive im Guggenheim Museum in NYC hat die Autorinnen motiviert, an der Biografie der Fünf zu arbeiten. Was sie in den Gegenwartskapiteln erzählen, ist, was die handelnden Personen betrifft, auch weitgehend der Fantasie entsprungen. Doch ist der Blick hinter die Kulissen eines Museums und der Organisation einer großen Ausstellung so nah an der Realität, dass die Recherchearbeit der Autorinnen sichtbar wird, und so manches zu erfahren ist, was den Ausstellungsbesucher:innen meist verborgen bleibt.
Erzählt wird vom stellvertretenden Kurator des Guggenheim Museums, Eben Elliot, der die erste Ausstellung von Hilma af Klints Bildern nach New York City anregt und auch kuratiert. Im Zuge seiner Arbeit sucht er auch, die Fragen nach der Zusammenarbeit der „Fünf“ zu beantworten. Und er muss sich auch um die Finanzierung der Ausstellung kümmern, dabei gilt es auch für die Leserin einige der üblichen Praktiken zu Geld zu kommen, zu entdecken. Der Ich-Erzähler, Eben, ist nicht nur von den vielen unbeantworteten Fragen und den Versuchen, die Kunstgeschichte zu manipulieren, betroffen, sondern auch von der Wiederbegegnung mit seiner großen Liebe aufgewühlt. Dieser erdachte Eben Elliot ist ein sympathischer Kerl, der neben seiner aufreibenden Arbeit als Kurator auch noch die alte neu erblühte Liebesgeschichte zu bewältigen hat. Von Hilmas Bildern ist er fasziniert, vor allem weil er in den für einen zu errichtenden anthroposophischen Tempel gedachten Bildern auch eine Architektur zu erkennen meint. Die Spiralen und Schnecken erinnern ihn an seine Arbeitsstelle, das Solomon R. Guggenheim Museum in New York City. So sind die Gegenwartskapitel nicht so dampfig wie der Blick zurück zu den Geistersitzungen und auch in einem anderen, nüchternen Stil geschrieben. Der Ich-Erzähler, Eben Elliot, betrachtet die Bilder aus einer neuen Perspektive, die Leserin darf an der Diskussion über die Einschätzung und den Erfolg der Werke Hilma van Klints teilnehmen. Die Frau, die zu Lebzeiten nicht als Künstlerin anerkannt worden ist, weil die Männer auch die Künste gepachtet hatten, ist zur richtigen Zeit aus der Versenkung geholt worden. Künstlerinnen aller Genres und Jahrhunderte drängen nach vorne, die Pacht der Männer ist abgelaufen. Das wertet auch den Roman „Hilma“ auf.
Als SF taugt er nicht, aber als AF bietet er leicht verdauliche Lektüre. Mit AF habe ich ein neues Literaturgenre erfunden, die Art-Fiction. Schließlich gibt es auch eine Cli-Fi.
Sofia Lundberg / Alyson Richman / M. J. Rose: „Hilma“, Romanbiografie, Originaltitel: „The Friday Night Club: A Novel of Artist Hilma af Klint and her Creative Cercle“, aus dem amerikanischen Englisch von Karin Dufner, Piper, 2023. 352 S. € 24,70.
1) „Über das Geistige in der Kunst. Insbesondere in der Malerei“ ist ein Text von Wassily Kandinsky, Erstauflage 1912 bei Piper. Aktuelle Ausgabe: Boer Verlag, 2014