Halina Dyrschka: „Jenseits des Sichtbaren“
Ein Film über die schwedische Malerin Hilma af Klint, die nach neuesten Forschungen das erste abstrakte Bilder gemalt hat. Mithilfe von Kunsthistorikerinnen, Kunsthistorikern und dem Erben von af Klints Werk, Erik af Klint, hat die Berliner Regisseurin Halina Dyrschka ihren ersten Langfilm gedreht. Zu sehen ist eher eine Hommage an die Malerin Hilma af Klint denn eine differenzierte Biografie.
Dass Hilma af Klint (1862 bis 1944) erst so spät, dafür zurzeit durch Ausstellungen immer wieder neu entdeckt worden ist, liegt an der Künstlerin selbst, die in ihrem Testament verfügt hat, dass ihre gegenstandslosen Bilder frühestens 20 Jahre nach ihrem Tod öffentlich hergezeigt werden dürfen. Es hat etwas länger gedauert, weil kein Museum an der unbekannten Malerin und ihrem Werk interessiert war. Das hat sich, auch dank der emsigen Arbeit der Kunsthistorikerin Julia Voss, jetzt geändert. Die ehemalige FAZ-Redakteurin hat eigens Schwedisch gelernt, um das verkannte Genie in der Kunstgeschichte zu etablieren. Das Ergebnis: Mit einer 600 Seiten starken Biografie, Übertitel „Die Menschheit in Erstaunen versetzen“, setzt Voss der Malerin ein Denkmal. Die Medien waren voll des Lobes, vor allem, weil Voss mitreißend zu erzählen weiß und ihre „Wissenschaftsprosa souverän“ ist.
1906 hat van Klint ihr erstes abstraktes Bild gemalt. Einfach so, nach einer Eingebung. Laut ihrer Biografin überhaupt das erste in der kanonisierten Kunstgeschichte. Davor wurde Wassily Kandinsky (1866–1944) als Pionier der das 20. Jahrhundert beherrschenden abstrakten Kunst gefeiert. Sein erstes abstraktes Bild ist mit 1910 datiert. Es ist ein Aquarell, eine Studie zu „Komposition VII“, das er möglicherweise selbst vordatiert hat. Sei’s drum, es geht doch in der Kunst nicht um einen Wettlauf (am Markt und in den Auktionshäusern vermutlich schon), doch der Unterschied zwischen Kandinsky und af Klint ist in meinem Auge als Betrachterin eklatant.
Was im Film, in dem auch Kunsthistorikerin Voss eine bedeutende Rolle spielt, völlig ausgespart wird, ist die Verbindung der Malerin zu anthroposophischen, theosophischen und anderen okkulten Kreisen. Mit vier Frauen hat sie regelmäßig Séancen abgehalten, worin sie als Medium aufgetreten ist. Der mystische Anteil ihrer Kunst passt ihren Verteidigerinnen nicht ins Konzept, erlaubte es großen Museen, wie dem MoMa in New York, Hilma af Klints Arbeiten als „spirituell, aber keine Kunst“ zu klassifizieren. Voss schließt daraus: „Die Kunstgeschichte ist männlich“ und tadelt, dass af Klint in der großen Ausstellung des MoMa von 2013, „Inventing Abstraction“, nicht einmal erwähnt wird: Weil dann die „Kunstgeschichte neu geschrieben werden“ müsste. Hilma hat Wassily überholt, und das passt vor allem dem Kunstmarkt nicht. Dass auch die Definition von Kunst durch deren Marktpreis bestimmt wird, ist nicht zu leugnen. Ob spirituell oder materiell ist egal, die Kunst liegt, wie die Schönheit, im Auge der Betrachterin. Ob die Auferstehung, die Hilma af Klint postum gegönnt und reichlich zelebriert wird, ihr selbst gefallen würde, bleibt vom Nebel des Unsichtbaren verhüllt.
Fest steht, dass die Tochter eines Admirals zur See, eine mutige, dem Zeitgeist trotzende Frau war, die heute Kreise anspricht, die kaum jemals ein Museum betreten haben.
Die af Klint-Retrospektive mit den meterhohen Gemälden im Guggenheim-Museum in New York lockte 2013 nahezu eine Million Menschen an. Schnell ist die Ausstellung dann auf Reisen gegangen und bis Berlin gelangt. Flugs war auch der Film fertiggestellt. Dann kam SARS-CoV-2 dazwischen und verhinderte die Aufführung in den heimischen Kinos. Jetzt steht die Hymne auf Hilma af Klint wieder im Programm.
Selbst im Film ist zu sehen, dass af Klints bunte Spiralen und Kreise, die strahlenbekränzten Pyramiden und Schneckenformen eine magische Wirkung ausüben. Weniger faszinierend sind ihre bunten Blüten- und Blätterformen. Es ging ihr darum, „sichtbar zu machen, was nicht zu sehen ist.“ Bei alle den Lobgesängen auf eine Pionierin der Malerei, muss schon erwähnt werden, dass sich Theosoph*innen und andere dem Mystizismus hingegebene Gruppierungen bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts Gedanken gemacht haben, wie man das Unsichtbare sichtbar machen kann. So hat die Leiterin der globalen Theosophische Gesellschaft Adyar gemeinsam mit C. W. Leadbeater 1905 das Buch „Thought-Forms / Gedanken-Formen“ herausgegeben, worin sie beschreibt und mit 58 Illustrationen zeigt, wie man Gedanken bildlich darstellen kann. Genau das ist auch Hilma van Klint am Herzen gelegen, „die Welt zu malen, die wir nicht sehen können“.
Übrigens hat die Malerin anfangs, wie sie es an der Königlichen Akademie der freien Künste in Stockholm gelernt hat, naturalistisch gemalt, Landschaften, Stillleben, Porträts und auch männliche Akte (meist mit bedecktem Geschlecht). Die Bilder sind ausgestellt und auch gekauft worden. Hilma af Klint hat sich selbst erhalten können. Der frühe Tod ihrer jüngeren Schwester Hermina weckte ihr Interesse an Religion und Spiritismus. Sie verließ das Sichtbare, bildete ihre eigene Innenwelt und Weltsicht ab, wollte ihre Bilder nicht mehr herzeigen oder gar verkaufen, auch nicht, als sie völlig verarmt war. Wenn Julia Voss und Kolleginnen fordern, die „Kunstgeschichte neu zu schreiben“, so ist damit lediglich die europäische (westliche) Geschichte der bildenden Kunst gemeint. Was sich außerhalb dieses Horizonts abgespielt hat und abspielt, ist nicht mit einbezogen.
Ein wenig schmerzt es, dass keine der befragten Fachleute auch eine andere, lange Zeit kaum beachtete Zeitgenossin af Klints, die finnlandschwedische Malerin Helene Schjerfbeck (1862–1946), erwähnt haben. Helene Schjerfbeck hat zwar nicht gegenstandslos gemalt, ihre Bilder sind konkret und leicht zugänglich, doch auch sie ist wider alle Konventionen und Traditionen ihren eigenen Weg gegangen, hat nicht Blumengärten gemalt, sondern verwundete Soldaten. Empörend! Im Jänner 2020 ist der biografischer Film „Helene“, Regie Antti Jokinen, in den Kinos gezeigt worden.
Internationale Aufmerksamkeit erhielt Helene Schjerfbeck erst 2007 durch eine Retrospektive in Paris und Hamburg. Nicht nur in Finnland und Schweden steht sie endlich als große Künstlerin außer Frage. Gut, man könnte sie auch als Gegenbeispiel für af Klint hernehmen, hat doch Schjerfbeck männliche Unterstützung genossen. Der Journalist Einar Reuter hat 1917 die erste Biografie über sie geschrieben, nachdem er ein Bild von ihr gekauft und sie kennengelernt hatte. Gleichzeitig hat der Kunsthändler Gösta Stenman die erste Einzelausstellung von Helene Schjerfbeck in Helsinki organisiert. Hilma af Klint hat keinen Wert auf Öffentlichkeit und die Vermarktung ihrer Bilder gelegt.
Ich bitte um Pardon für diesen Ausritt zu der von mir geliebten und von Barbara Beuys 2018 in einer Biografie im Insel Verlag bekannt gemachten Malerin.
Er war notwendig.
Der Film zu Ehren von Hilma af Klint ist, trotz aller Einschränkungen aufgrund seiner Einseitigkeit, sowohl für Kunstkenner*innen und noch mehr für alle, die es nicht sind, oder sich nicht als solche fühlen, sehenswert. Schon allein, weil eine ganze Bildergalerie gezeigt wird. Dabei kann sich das eigene Urteil bilden.
Halina Dyrschka: „Jenseits des Sichtbaren – Hilma af Klint". Kamera: Alicja Pahl, Luana Knipfer. Mit Kuratorinnen, Kuratoren und Mitgliedern der Familie af Klint. filmladen Filmverleih. Ab 28. 8. im Kino.