Kein Hafen ist sicher, die KI findet dich überall
Ein Thriller, so intelligent wie spannend, so gut erfunden wie aktuell. Anthony McCarten hat mit „Going Zero“ die besten Chancen, der literarische Hit des Jahres zu werden. Eine neu entwickelte Spionagesoftware soll im Test beweisen, dass jede Person aufgespürt werden kann, in welchem Loch auf der Welt auch immer sie sich versteckt. Zehn Testpersonen wurden ausgewählt, um die Allmacht von Fusion zu beweisen. Für den Entwickler Cy Baxter von „Fusion“ gilt, wenn alle Zehn innerhalb von 30 Tagen enttarnt werden, wird er Milliardär sein und auch mächtig.
„Go Zero!“, lautet der Befehl zum Auftakt des Experiments. Das heißt für die zehn Kandidat:innen, dass sie sich vor allem aus dem Netz abkoppeln müssen, damit sie keine Spuren hinterlassen, die Fusion finden kann. Wer innerhalb von 30 Tagen nicht gefunden wird, erhält drei Millionen Dollar.
Fusion und die menschlichen Helfer sind perfide, man staunt mit jedem Tag mehr, was alles vernetzt und kombiniert werden kann, um eine untergetauchte Person zu orten. Die Lektüre bereitet Vergnügen, verbreitet aber auch Furcht und Schrecken. Noch ist "Going Zero" nur ein Roman, pure Fiction jedoch sicher nicht. Die sich für superschlau halten, werden am schnellsten gefunden. Die Spuren, die jede(r), ob Romanfigur oder reale Person, unbewusst hinterlässt, sind zahlreich; die Datenschutzgesetze sind lästig und ziemlich ineffizient. Der Großteil der Erwählten hat keine Chance, nur eine harmlose, unscheinbare Bibliothekarin widersetzt sich dem System, nimmt es mit der KI auf. Sie setzt Geist und Körper ein, denn sie muss gewinnen.
Es ist ein hoch spannender Count-down, den der Autor, für seine Drehbücher mit einigen Oscar-Nominierungen belohnt, vor den Leserinnen herunterzählt. Von der Stunde Null, bevor die 30 Tage beginnen, bis zur letzten Stunde. Nach und nach wird die Liste der Probanden kürzer, nur von der Bibliothekarin Kaitlyn fehlt jede Spur. Sie ist Zero 10 und sie ist nicht, wie alle anderen, hinter dem Preisgeld her. Für sie steht wesentlich mehr auf dem Spiel. Allerdings, dreißig Tage lang unauffindbar zu bleiben, ist kein Spiel, das ist ein Abenteuer, anstrengend und gefährlich.
Während Kaitlyn halb Amerika durchquert, bleibt der Gegner, Cy Baxter, immer in Washington D.C., im Hauptquartier von Fusion. Für ihn geht es ums Ganze. Er hat Fusion der amerikanischen Regierung angeboten, die Wege sucht, potenzielle Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren. Cy behauptet, „Fusion kann das, die Software findet jeden jederzeit und überall.“ Wissen darf von diesem Deal niemand, doch die CIA mischt mit. Und die gejagte Bibliothekarin, von der Cy dachte, sie würde als erste ausscheiden, trickst die Jäger, menschliche und digitale, immer wieder aus.
Gekonnt wechselt McCarten die beiden Zentren der Geschichte, berichtet aus der Perspektive des IT-Bosses Cy Baxter und lässt ihn an der Klippe hängen, um schnell zu Kaitlyn zu wechseln, die auf Socken durch den Wald stapft. Während die an ihren verlorenen Freund denkende Kaitlyn die Sympathien der Leserin gewinnt, verliert Cy jegliche Zuneigung. Er entpuppt sich als skrupelloser Hai, dem Menschenleben nichts wert sind.
McCarten gelingt es, einen spannenden Roman mit Tiefgang zu schreiben. Neben bester Unterhaltung bietet „Going Zero“ auch reichlich Stoff zum Nachdenken. Wie sehr greift die digitale Technologie schon heute in unser Leben ein? Haben wir überhaupt noch Kontrolle über unsere persönlichen Daten? Muss ich täglich fürchten, dass mir eine(r) die Identität stiehlt und mit meinem Namen nicht nur das magere Konto plündert, sondern auch ein Verbrechen begeht? Wie viel Sicherheit verträgt unsere Freiheit? Wie stark die Realität in diesen ausgezeichneten Roman hineinspielt, enthüllt sich auf ganz andere Weise gegen Ende der Jagd. Im Interview mit Stephanie Uhlig; Mitarbeiterin im Diogenes Verlag, erzählt der Autor, dass ihn die Geschichte eines amerikanischen Staatsbürgers, die vor ein paar Jahren durch die Medien ging, zu seinem Thriller inspiriert habe. Im Internet hat er den Bericht wohl nicht gelesen: „Da bin ich hundertprozentig Zero“, gesteht er. Dass es dem 62-jährigen nicht an Humor mangelt, kann nicht nur in seinen Büchern festgestellt werden, sondern er beweist ihn auch spontan im genannten Interview. Auf die Frage, ob er seine Taktik, Hochspannung zu erzeugen, verraten will, antwortet McCarten gelassen: „Ja. Man steckt ein Messer hinein und dann dreht man es ganz, ganz langsam um.“ Autojagden, Pulverdampf und Blutlachen benötigt er jedenfalls nicht. Das Böse kann auch charmant und verführerisch sein.
Anthony McCarten: „Going Zero“, aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, Diogenes 2023. 460 Seiten. € 25,70. E-Book: 21,99.