Der Choreograf und die Tänzerin – zwei Porträts
Ein Sohn findet ein altes Fotoalbum seiner verstorbenen Mutter. Zeitungsausschnitte, Notizen, Briefe, Fotos, die Hinterlassenschaft einer Künstlerin. Martin Lobigs Mutter war eine Tänzerin, von ihren Eltern und Freund:innen „Bé“ genannt, für die Weltpresse war sie Beatrijs Vitringa, „der Star“. Ihr Sohn Martin erzählt aus ihrem Leben, das eng mit der Kompanie des deutschen Choreografen Kurt Jooss verbunden war. Für sein Buch „Das Tanzen bleibt“ blättert Martin Lobigs im „Album der Tänzerin Bé“, und verflicht ihr Leben mit der „Tournee der Ballets Jooss im Zweiten Weltkrieg“.
Kurt Jooss (1901–1979) muss nicht vorgestellt werden, mit seiner Choreografie „Der grüne Tisch“, die 1932 in Paris beim Concours de Chorégraphie mit dem Ersten Preis ausgezeichnet worden ist, hat er Weltruhm erlangt. 1933 ist Jooss nach England emigriert und hat mit seinem Partner Sigurd Leeder in Dartington Hall die „Jooss-Leeder-School of Dance“ gegründet. 1939 wurde auch die 15-jährige Beatrijs Vitringa (7. Juli 1924–11. Mai 2011) zur Tanzausbildung aufgenommen. Bis sie aber ihren sehnlichsten Wunsch, im Ballet Jooss mitzutanzen, erfüllen konnte, mussten der Krieg und das Internierungslager und andere Fährnisse überstanden werden. Erst als Jooss 1949 mit seinen Ballets wieder nach Deutschland zurückgekehrt war und in Essen die Leitung der Tanzabteilung der Folkwangschule übernommen hatte, kann sich Bé endlich ihren Traum erfüllen, bei Jooss zu tanzen.
Beatrijs Vitringa kommt 1924 als Tochter eines kunstsinnigen europäischen Ehepaars in Bandoeng (Bandung) auf Java, bis 1949 eine Kolonie der Niederlande, zur Welt. Die Mutter erkennt früh das Talent des kleinen Mädchens und schickt sie in den Tanzkurs. Bald weiß Bé, sie will „eine zweite Pawlowa“ werden. Sie war noch keine fünf Jahre alt, als sie die Pawlowa live auf der Bühne bewundern kann. 1928 hatte die russische Ballerina auf ihrer Welttournee auch auf Java haltgemacht. Die Sehnsucht, Tänzerin zu werden, bestimmt seitdem Bés Leben. 1935 besucht sie mit ihren Eltern Amsterdam, sieht die Ballets Jooss und ist wie elektrisiert. "Zurück in Bandoeng kann sie es kaum erwarten, endlich alt genug zu sein für ihren ersten Reisepass: Sie will nach Dartington Hall, zu Kurt Jooss.“
Noch in England, als Schülerin der von Sigurd Leeder in London eröffneten Tanzschule, hat sie 1947 dem verehrten Choreografen vortanzen dürfen. Jooss’ Urteil hätte positiver nicht sein können. Er vertröstet Bé zwar auf den Neuanfang in Deutschland, in der Zwischenzeit solle sie eigene Pläne verfolgen. Dafür gibt er ihr ein Empfehlungsschreiben mit:
Mit echter Genugtuung kann ich feststellen, dass Beatrijs Vitringa meiner Meinung nach eine der herausragendsten Hoffnungen der jungen Generation moderner Tänzer ist. Ihre solide Technik verbindet sich mit einem feinen Sinn für Form und einem tiefen Gefühl für dramatische und emotionale Werte. Das Ergebnis ist eine Bewegung von großer Ausdruckskraft und Schönheit.
Mitte 1950 erreicht sie in Kapstadt die Nachricht von Jooss: Im Oktober soll sie in Essen sein. Nur noch eine Schiffsreise ist sie von Europa entfernt. Der Traum wird wahr, sie wird eine der Haupttänzerinnen im Folkwang-Tanztheater. Als „Ballets Jooss“ geht die Compagnie wieder auf Tournee. 1953 geben die Ballets Jooss ihre letzte Vorstellung, am 20. Mai 1953 wird das Tanztheater aufgelöst. Die Stadt Essen kann die Compagnie nicht mehr unterstützen. Jooss aber macht weiter, die Tänzer:innen bleiben im treu. Auch Bé geht mit ihm nach Düsseldorf. Dort soll er an der Oper ein Tanztheater auffbauen. Doch das gelingt nicht wirklich, nicht alle Entscheidungsträger wollen eine Tanzcompagnie erhalten. Jooss kündigt in Düsseldorf und 1956 feiert Bé ihren letzten Bühnenerfolg. Die Rolle der Mutter in Jooss’ Choreografie „Der verlorene Sohn“ wird ihre letzte bleiben. Bé ist erst 33 Jahre alt und beginnt ein neues Leben, ein neuer Mann ist auch dabei. Längst ist ihre Ehe zerbrochen, den gemeinsamen Sohn behält ihr Mann als Preis für eine Scheidung. Bé heiratet ihre neue Liebe und bringt zwei Söhne zur Welt. Der jüngste, geboren 1956, ist Martin, der Autor der aufregenden Geschichte von Beatrijs Vitringa, genannt Bé.
„Die Geschichte mag Menschen vergessen. Das Tanzen aber bleibt.“
Martin Lobigs: „Das Tanzen bleibt“, Unterwegs mit den Ballets Jooss. Das Album der Tänzerin Bé.1924–1956. Henschel, 2023. 160 Seiten, 100 Abbildungen, schwarz-weiß, reicher Anhang. € 26, 80.
Bilder: Buchillustrationen, © Henschel Verlag
Kursiv gesetzte Textstellen sind Zitate aus dem Buch.