Nikolaus Adler: Der Mythos als Grundstoff
Sing no more this bitter tale“, dieses so poetisch klingende Zitat gibt der neuen Choreografie von Nikolaus Adler, der mit seiner Tanz-Performance „Balthazar“ das Publikum begeistert hat, den Titel. Es ist ein Zitat aus der Odyssee, gemeinhin Odysseus selbst zugeschrieben, doch bei genauem Nachlesen, von Penelope, seiner geduldig auf den Abenteurer wartenden Gattin, gesprochen. Am 14. Februar hat die Mär von den Irrfahrten des Odysseus und seiner Heimkunft Premiere im WuK.
Odysseus, der mythische Held, "der erste selbstbestimmte Mensch“ für den Choreografen, war jedoch gar nicht der Ausgangspunkt von Adlers Überlegungen, als er über seine neue Choreografie nachzudenken begonnen hat. Was Nikolaus Adler beschäftigt hat, sollte ein Stück über die Selbstbestimmtheit, die tatsächliche Freiheit des Individuums werden. Dafür dient der Kerl, der Frau und Kind und sein Amt als König von Ithaka einfach vergessen hat, um sich ins Kriegsabenteuer zu stürzen, als lebendige Metapher. Für Adler sollte die Choreografie „eine riesige Geschichte, mindestens Liga: Ben Hur" werden, und er "will mit dem Stück auch das Theater selbst feiern, und so, mit lediglich vier Personen, ein ganzes Universum erschaffen. Daraus wiederum entstanden dann eine Reihe formaler Spielregeln und Thesen und mit ihnen die Suche nach der idealen Spielwiese, um diese zu erproben“, sagt Adler nach einem anstrengenden Probentag.
Ein ehrgeiziges Vorhaben für den ehemaligen Balletttänzer, der schon 1995, noch während seines Engagements an der Wiener Staatsoper, zu choreografieren begonnen hat und in den 25 Jahren mehrfach prämiert worden ist. Dass Gedankenspiele nicht mit dem Tanz allein plausibel gemacht werden können, ist klar, doch Adler hat eine zweite Liebe: den Kinofilm. Das Erzählen von Geschichten mit Bildern und Metaphern beherrscht er perfekt und, wie schon so oft in seinen Choreografien, stützt er sich nicht nur auf die heute kaum kodierbare Tanzsprache, sondern auch auf die des Films: „Da weiß jede(r, )was sie / er von den einzelnen Genres und den filmischen Stilmitteln, wie Schnitte, Zeitsprünge und parallele Handlung, zu erwarten hat.“ Für das „traurige Lied“, das Penelope nicht mehr hören will, um nicht an den tot geglaubten Ausreißer denken zu müssen, hat er sich auch der Form des japanischen Puppenspiels, Bunraku, bedient. „Drei schwarz gekleidete Männer führen eine Puppe. Im Bunraku steht natürlich die Puppe im Mittelpunkt, doch mich interessiert auch die daraus resultierende Choreografie, der Puppenspieler*innen mit ihrer Figur.“ Damit lässt sich auch der Sprung vom gelenkten, von Göttern oder dem Schicksal abhängigen, Menschen zum selbstbestimmten Individuum plastisch darstellen. Mit wechselnden Kostümen schafft Adler es tatsächlich, mit seinen vier Tänzer*innen (Laura Fischer, Katharina Illnar; Etienne Aweh, Chris Wang) das gesamte Universum der Odyssee zu erschaffen.
In der Ecke des Probenraums in der Laxenburger Straße steht ein kleines Modell des Bühnenbilds, das einstweilen nur angedeutet ist, wie viele Gesten der Darsteller*innen, die im leeren Raum ohne Objekte probieren.
Dennoch – schon schaukeln die Schiffe auf dem Meer, der Zyklop verliert sein Auge und vernichtet die Flotte, Kalypso umgirrt den Reisenden, die Gefährten werden zu Schweinen, die Sirenen lassen ihren betörenden Gesang hören. Neben den technischen Geräten steht einsam ein goldener Stier: Die Rinderherde des Helios muss noch warten.
Nikolaus Adler will in den Zuschauer*innen Gedanken und Gefühle wecken, „das funktioniert am besten mit Geschichten. Ich halte wenig vom inhaltslosen Tanz." Und die alten Geschichten, ob man sie kennt oder nicht, erzählen von Themen, die heute so relevant sind wie vor 3000 Jahren. Nicht nur im Theater, im Film und der Literatur wird der Stoff immer wieder neu gewebt, auch im Tanz hat die griechische Mythologie ihren Platz. Bei den Wiener Festwochen 2019 hat die norwegische Choreografin und Tänzerin Mette Edvardsen mit dem träumerischen Stück „Penelope sleeps“ das Publikum in Bann gezogen.
Damit nicht vergessen wird, dass die Grundidee des Stückes das autarke Handeln, die Selbstbestimmung ist, bestimmen auch die Tänzer*innen ihr Handeln: Sie stehen als DJ am Musikcomputer, sind ihre eigenen Lichttechniker*innen und sind auch für das rechtzeitige Erscheinen der richtigen Schriftzeilen an der Wand verantwortlich. Ariane Isabell Unfried, die die Bühne möbliert und die Kostüme entworfen hat, Markus Schwarz, der Lichtdesigner und Wolfgang Urban, musikalischer Berater und Sounddesigner haben vorgearbeitet, an den Schaltern arbeiten bei jeder Vorstellung die Tänzer*innen. Das gibt zugleich einen angenehmen Abstand zu den aufwallenden Gefühlen, denn nicht nur auf der Bühne sind alle vier Odysseus, auch wir alle sind Odysseus, meint der Choreograf.
Auf seiner Reise gelangt Odysseus auch in die Unterwelt, und da sieht Adler den Knick, aus dem Hades kommt man nicht unverändert wieder zurück. „Mir ist aufgefallen“, erzählt Adler, „dass es in der griechischen Mythologie nur zwei Figuren gibt, die die Unterwelt wieder verlassen durften: Odysseus und der Sänger Orpheus.“ Auch Orpheus verändert sich, er dreht sich bewusst um, sagt Céline Sciamma in ihrer wunderbaren Filmchoreografie „Portrait de la jeune fille en feu“, und verzichtet auf die Liebe, weil er sich ganz seiner Kunst widmen muss. Odysseus erfährt vom blinden Seher Teiresias sein weiteres Schicksal und begegnet den Schatten toter Helden und dem seiner Mutter. Wenn das nicht seine Einstellung ändert! Ich bin neugierig.
So wie Odysseus immer wieder im Kreis fährt, kehre auch ich wieder an den Anfang und zum Titel des Stückes zurück, um zu erklären, warum dieses Zitat auf Englisch seine Berechtigung hat. In der klassischen Übersetzung von Johann Heinrich Voß aus dem 18. Jahrhundert klingen die Zeilen weniger poetisch als holprig: „Phemios, du weißt ja noch sonst viel reizende Lieder[ …], allein mit jenem Gesang quäle mich nicht, der stets mein armes Herz mir durchbohret", bittet Penelope den Sänger, der von Odysseus Abenteuern erzählt. Also lieber bei der modernen englischen Übertragung bleiben: „Sing no more this bitter tale, that wears my heart away.“ Die verlassene Penelope findet die Abenteuerballade traurig, war sie doch damals ohne Mann, nichts wert und als Herrscherin von Ithaka nicht tauglich. Nicht nur deshalb bedrängten sie die Männer, die sie heiraten und König werden wollten. Doch, keine Sorge, Nikolaus Adler erzählt mit seinen vier Tänzer*innen eine heutige Geschichte, in leicht deutbaren Bildern. Die 24 Gesänge des Homer muss niemand gelesen haben.
Nikolaus Adler: „Sing no more this bitter tale“, Tanz Performance. Premiere: 14. Februar 2020, WuK.
Tanz, Choreografie: Laura Fischer, Katharina Illnar; Etienne Aweh, Chris Wang.
Bühne, Kostüme: Ariane Isabell Unfried; Licht: Markus Schwarz; Musikalische Beratung, Sounddesign: Wolfgang Urban; Dramaturgische Beratung: Sophie Eidenberger. Produktion: Roma Janus. Eine Produktion des Kulturvereins für zeitgenössischen Tanz.
15., 16.; 19., 20., 21., 22. Februar 2020, WuK.