Mette Edvardsen: Eine Bibliothek lebender Bücher.
Wenn die Bücher verbrannt werden, müssen sie in den Köpfen ihrer Leserinnen weiterleben. Die norwegische Choreografin Mette Edvardsen lädt mit ihrem Projekt „The time has fallen asleep in the afternoon sunshine– a library of living books“ mit einem Buch zu kommunizieren, ihm in die Augen zu sehen, während es sich selbst erzählt. Frauen und (wenige) Männer haben Bücher auswendig gelernt um sie der Besucherin nahezubringen. Eine halbe Stunde dauert die überraschend beglückende Begegnung.
Schade, die lebende Bibliothek von Mette Edvardsen reist weiter in ihre Heimat Norwegen. So hat ein Buch nur einmal zu mir gesprochen, nämlich der schöne Roman „Vielleicht Esther. Geschichten“ von Katja Petrowskaja (Suhrkamp). Gerne wäre ich noch mehr Büchern begegnet, damit sie eine halbe Stunde mit mir sprechen. Persönlich, vertraulich, ganz anders als bei einer öffentlichen Lesung, wo entweder gestammelt oder deklamiert wird, und der / die Lesende meist mehr Aufmerksamkeit bekommt als das Werk. Wenn das Buch selbst spricht, wird nicht interpretiert und rezitiert, sondern kommuniziert.
Julie Pfleiderer, in Brüssel lebende deutsche Regisseurin ist mein Buch, das in der Hauptbibliothek zu mir spricht. Zuerst müssen wir uns einen Platz für unsere Sessel suchen. Wir finden ihn in einer der Bibliotheksschluchten. Es ist Zufall, dass wir mitten in der Kultur gelandet sind, und auch, dass Julie mit dem Blick zum Fenster Platz genommen hat. Noch bevor das Buch mit Julies angenehmer Stimme zu sprechen beginnt, bricht es unvermittelt in Gelächter aus. Gegenüber, im zweiten Flügel der Bücherei sitzt eine Kollegin und rekapituliert gerade ihr Buch, die Besucherin ist noch nicht eingetroffen. Die Kolleginnen müssen beide lachen. Das gefällt mir, obwohl Petrowkajas Roman ziemlich traurig zu werden scheint. Es beginnt am Bahnhof, wo die Reisenden ins Gespräch kommen, bevor der Zug nach Kiew abfährt. Das erste Kapitel trägt die Überschrift „Google sei Dank“ und ich danke der Autorin, denn sie hat auch Humor.
Es ist unvermeidlich, dass einem zu dieser „lebenden Bibliothek“ der Science-Fiction Roman von Ray Bradbury „Fahrenheit 451“ (1953, 1966 von François Truffaut mit Oskar Werner als Fire Man Montag verfilmt) einfällt. Bradbury schildert eine Gesellschaft, in der Bücher verboten sind, damit die Menschen glücklich leben können. Bücher gelten als gefährlich, deshalb sammeln sich im Untergrund Regimegegner*innen, die Bücher auswendig lernen.
Julie spricht lebhaft in normaler Betonung, wenn das lebende Buch einen Fragesatz sagt, bin ich immer wieder verführt, zu antworten. Ich bin mit diesem Buch im Gespräch. Zuhörend ist es schwierig, Aufmerksamkeit und Konzentration zu bewahren, lesend kann ich jederzeit zum entschwundenen Satzgefüge zurückkehren, mit Julie geht das gar nicht. Das heißt, vielleicht wäre es möglich, zu stoppen und „Bitte noch einmal vom Satzanfang an“ zu sagen. Ich mache das nicht, sie / es soll nicht denken, dass ich gar nicht zuhöre. Mitunter muss Julie ein wenig nachdenken, den Anschluss suchen. Ein Buch oder auch nur ein ganzes Kapitel auswendig zu behalten, ist nicht einfach. Kein hilfreicher Reim oder Rhythmus wie in der Lyrik, kein Stichwort wie am Theater hilft weiter. Mit einem Prosatext ist man ganz auf sich allein gestellt, vor allem wenn das Buch selbst seine Gedanken im Rösselsprung bewegt. Doch Julie schafft es, ohne das zwischen uns liegende Buch aufzuschlagen. Ich hätte mitlesen können, doch dann wäre es keine vergnügliche Kommunikation geworden, sondern bösartige Kontrolle. Das Buch, sein Leben, das ja nicht aus / auf Papier besteht, hätte ich nicht kennen gelernt.
Die Zeit wäre möglicherweise eingeschlafen, hätte eine Nachmittagssonne geleuchtet. Das war ihr durch schwarze Wolken und Regenschauer verwehrt. Was sich in Julie verändert, wenn sie eine ihr fremde Sprache in sich trägt, wage ich nicht zu fragen. Sie ist auch noch nicht gar so lange eine Buchperson. Ich jedenfalls würde sofort wieder eine halbe Stunde gegenüber oder auch neben einem lebenden Buch sitzen und ihm zuhören. Der poetische Titelsatz, der mich verführt hat, ein lebendes Buch kennen zu lernen, ist von Ray Bradbury und ein Zitat aus „Fahrenheit 451“.
Mette Edvardsen: „Time has fallen asleep in the afternonn sunshine – a libryary of living books“, Konzept: Mette Edvarsen. Mit Andrea Maurer, Carolne Dasih, David Helbich, Emmilou Rößling, Julie Pfleiderer, Justine Maxelon, Katja Dreyer, und vielen anderen. 11. bis 18. Mai 2019, unterschiedliche Orte. Eine Veranstaltung der Wiener Festwochen 2019.