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Was vom alten Jahr übrig blieb

Lesen kann man diese Bücher nicht, sie dienen der Dekoration. © Marke Generic / amazon.de

Teil zwei, die Fortsetzung. Nach den Uraltschulden, Bücher, die ich gern empfehlen wollte, doch immer wieder zurücklegen musste, weil aktuellere Werke heftiger auf Bearbeitung pochten, nun ein kleiner Rest von 2024. Vier  Veröffentlichungen, die man einst gerade noch als noch druckfeucht bezeichnet hätte, werden nun mehr oder weniger wohlwollend, abgehakt. Die hohe Kunst der Kurzfassung zählt nicht zu meinen Talenten

Christiane Neudecker, Schriftstellerin, Librettistin und Regisseurin. Foto: © Maurizio Gambarini / christianeneudecker.comVor fünf Jahren habe ich mich durch fast 700 Seiten des Romans der gott der stadt (die affige Kleinschreibung ist original) von Christiane Neudecker gequält und war sehr enttäuscht. Neudecker hat in Deutschland einen guten Ruf. Ich habe sie vergessen und noch einmal eine Publikation der 50-jährigen Autorin geordert. Ich bin wieder enttäuscht worden. Die Geschichten, SF, nicht Science, sondern Story Fiction ähneln einander, falls es eine Pointe gibt, weiß man sie nach wenigen Sätzen. Schutzumschlag: „Die Welt wartet“. © LuchterhandUnheimlich, wie der Untertitel vorgibt, ist mir gar nicht erschienen.Die Erzählungen sind offenbar ein Aufguss der erfolgreichen ersten Sammlung mit unheimlichen Geschichten: Das siamesische Klavier, erschienen 2012, als Suhrkamp-Taschenbuch um wohlfeile € 9,30. Gibt es dem Zugfenster nichts Erfreuliches oder Fesselndes zu sehen, dann kann man sich immer noch so eine unheimliche Geschichte zu Gemüte führen.

Sprachkünstlerin Olga Grjasnowa, fotografiert von  Valeria Mitelman. © Hanser BerlinZur Abwechslung warten zwei Autorinnen empfohlen zu werden, die mich auf unterschiedliche Weise angesprochen haben, doch in jedem Fall überaus positiv. Genannt sei die britische Autorin Jane Crilly, die nach unterschiedlichen Tätigkeiten mit etwa 50 endlich zu ihrer Berufung, dem Erzählen, gefunden hat. Nummer zwei, Olga Grjasnowa, hingegen, die aus Aserbaidschan stammt, lebt in Wien und ist als Schriftstellerin hinlänglich bekannt und mehrfach preisgekrönt. Seit März 2023 ist sie Professorin am Institut für Sprachkunst der Universität für angewandte Kunst Wien, was sie nicht daran gehindert hat, ihren fünften Roman zu veröffentlichen. Baku,Filarmonia Park. In der aserbaidschanischen Hauptstadt ist Grjasnowa 1984 geboren; 1996 übersiedelte die Familie nach Deutschland. © wikipedia Schon ihr Debüt 2012 zeigte im Titel, dass ihr, trotz Flucht und Migration, der Humor nicht abhandengekommen ist.Der Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt, hat sie mit 28 veröffentlicht, der jüngste Roman, lakonisch Juli, August, September genannt, ist quasi ein Geschenk zu ihrem 40. Geburtstag. Wie schon in anderen ihrer Romane beschäftigt sich Grjasnowa mit ihrer Identität. Der 90. Geburtstag von Maya wird auf Gran Canaria gefeiert. © crancanaria comDer Titel grenzt den Zeitraum der Erzhlungauf drei Sommermonate ein: Der Juli ist der Kleinfamilie von Lou mit Töchterchen Rosa und Ehemann Sergej, einem erfolgreichen Pianisten, gewidmet. Im August muss sich Lou mit Mutter und Schwiegermutter auseinandersetzen und danach sitzt die gesamte jüdische Familie an einem Tisch. Tante Mayas 90. Geburtstag muss gefiert werden, nicht in Israel, wo sie lebt, sondern auf Gran Canaria. Wie die Autorin ist auch Lous Familie als jüdischer Kontingentflüchtlinge aus Baku nach Deutschland gekommen. Um jüdisches Leben hat sie sich bisher nicht gekümmert. Schutzumschlag. „Juli, August, Septmber“. © Hanser BerlinNun aber, da Rosa heranwächst und nach der geballten Begegnung mit der in Israel lebenden Familie, beginnt Lou nachzudenken. Auch über ihre Ehe, die nicht mehr so richtig funktioniert. Beim Nachdenken bleibt es, Lou ist zu keinem Entschluss fähig, schließt die Augen und belässt alles beim alten. Die Leserin allerdings bekommt  viel Stoff zum Überlegen und auch allerlei hübsche Formulierungen und Randbemerkungen zum Schmunzeln.
Jane Crilly hat schon mit ihrem Erstling, Der Gärtner von Wimbledon, bewiesen, dass sie dem hochgeschätzten englischen Trivialroman alle Ehre macht. Die Spaltung zwischen E und U, in der Literatur ebenso wie in der Musik, bleibt dem deutschsprachigen Raum vorbehalten. In England wird qualitätvolle  Unterhaltung  ebenso geschätzt wie verstiegene Gehirngymnastik. Der zweite Streich lässt bereits im Titel, Mit goldenem Löffel, Bilder von gepflegtem Rasen und altem Gemäuer aufsteigen. Auf Haddock Hall steht das Leben still. Der Weltkrieg ist zwar zu Ende, doch die Trauer um die geliebte Ehefrau und Mutter lähmt den Rest der Familie, den Vater und zwei heranwachsende Söhne. Überraschend kommt der jüngere Bruder des Baronets aus Südafrika zurück. Im Schlepptau hat er die schöne, junge Elise, die alle Männer auf Haddock Hall, die alten Herren  und die beiden Jünglinge, bezaubert und verwirrt. Haddock Hall erwacht zum Leben und Elise ist die Königin, die sie sich aussuchen kann, wem sie ihre Gunst schenkt. Doch wie gewonnen, so zerronnen. Eines Tages ist Elise samt ihrem Geheimnis verschwunden Haddock Hall verfällt, wird zum Museum, das der Erzähler gerne besucht. Er hat Elise mehr als gut gekannt. Als jüngerer Bruder des letzten Baronets hat er gehofft, sie für immer zu erobern. Als alter Mann macht er sich auf die Suche nach ihr.  Frisch und fröhlich erzählt der einstige Bewohner von Haddock Hall die Geschichte einer Familie, die die neue Zeit nicht überdauern kann. Und, im Gegensatz zu Rosamunde Pilcher, ist die Liebesgeschichte mehr bitter als süß. Das Happy End sieht ganz anders als erwartet aus. Also bitte, nicht mit Rosamunde P. verwechseln.
Zum Abschluss muss ich eine totale Niederlage gestehen. Der mir bisher unbekannte Autor Thomas Meinecke (*1955. Hamburg) hat mich in die Knie gezwungen. Ich verstehe nicht, was er will.  Die Sammlung von Biografien, Verweisen, Zitaten, alten Texten, Theorien und Assoziationen ist eine mühsame Lektüre. Thomas Meinecke scheint fleißiger Denker und Schreiber zu sein, der Wikipedia-Eintrag ist ziemlich dicht. Diesem entnehme ich gleich zu Beginn, dass Meinecke „mit der Musikerin und bildenden Künstlerin Michaela Melián verheiratet“ und auch „Mitglied des Deutschen Alpenvereins, Sektion Niederelbe“ ist. Nach anderen Mitteilungen aus der Rubrik privat, erfahre ich endlich Erhellendes über Thomas Meinecke: „Seit Mitte der 1990er Jahre ist er mehrfach als postmoderner Literat hervorgetreten, der durch eine ungewöhnliche, den musikalischen Experimentierfeldern ähnliche Schreibtechnik des Sampling auffällt.“ Postmodern also, das heißt, alles ist erlaubt. Unter dem neuen 440 Seiten starken Werk, Odenwald benannt, steht zwar Roman, doch es ist keiner, eher ein Pasticcio aus angelesenem und gefundenem Material. Ich kann mich nicht damit anfreunden, zumal ich mich bereits in den 1970er Jahren an postmodernen Romanen sattgelesen habe. Der Fokus in Odenwald ist auf den Philosophen und Musiktheoretiker Theodor W. Adorno (1903–1969)gerichtet. Er hat die Sommer seiner Kindheit in der Stadt Amorbach im Odenwald verbracht. Der idyllische Ort wurde für ihn zum Garten Eden, den er auch später immer wieder besucht hat. Der Suhrkamp Verlag bietet einen kurzen Einblick in Meineckes Methode als Leseprobe an. Weil alles erlaubt ist, sucht man vergeblich nach einer nachvollziehbaren Handlung, daher muss auch nicht linear gelesen werden. Lesegenuss oder auch Erkenntnis kann auch erlangt werde, indem man den kompakten Band irgendwo aufschlägt und hinein (sich ein-)liest. Odenwald eignet sich auch als Orakelbuch, jedem Tag einen der Merksätze also Motto anheften. Aufgepasst allerdings, manche Passagen sind auf Englisch wiedergegeben. Man müsste nicht nur Klavierspielen können, sondern auch beherrschen, sich kurzzufassen. Fortsetzung folgt.

Christiane Neudecker: Die Welt wartet. Unheimliche Geschichten. 256 Seiten, Luchterhand, 2024. € 22,70. E-Book:  17,99.
Olga Grjasnowa: Juli, August, September, Roman, 224 Seiten, Hanser Berlin, 2024. € 24,70.
Jane Crilly: Mit goldenem Löffel / Silver spoon, übersetzt von Julia Becker. 256 Seiten, Kampa, 2024. € 22,70. E-Book € 16,99.  
Thomas Meinecke: Odenwald, Roman, 440 Seiten, Suhrkamp, 2024. € 26,80; E-Book: € 21,99.