Im Kristallpalast mit einem Vogel aus Papier
Nur noch dreimal gibt es heuer Gelegenheit, das für das Wiener Staatsballett geschaffene Tanzstück „Fly Paper Bird“ des Choreografen Marco Goecke zu sehen. Umrahmt wird das Meisterstück von einem Einfall von Martin Schläpfer aus dem Jahr 2006, durch neue Kostüme von Susanne Bisovsky aufgefrischt und der heiteren Hommage an das klassische Ballett von George Balanchine mit dem Titel „Symphony in C“.
Bizet war erst 17 Jahre alt, als er seine Sinfonie in C-Dur aus dem Ärmel geschüttelt hat. Der in St. Petersburg gebürtige Georgier George Balanchine (1904–1983) war mehr als doppelt so alt, als er 1947 für das Pariser Ballet de L’Opéra zur Sinfonie des Franzosen das entzückende Ballett Le Palais de Cristal kreierte. Die Kostüme Lenor Fini waren in jedem Satz in einer anderen Farbe gehalten. Schon ein Jahr später hat Balanchine die Choreografie unter dem Titel Symphony in C für die Ballet Society im City Center of Music and Drama, New York, einstudiert. Nach der Premiere im März hat das New York City Ballet das Ballett im Oktober 1948 übernommen. 1950 hat das NYCB eine Neuproduktion von Symphony in C gezeigt. Für die Ausstattung ist der Name Karinska notiert. Barbara Karinska, vulgo Karinska, (1886–1983) war eine oscarprämierte ukrainisch-amerikanische Kostümbildnerin für Filme, Ballett und Musicals. Als das New York City Ballet bei seinem Gastspiel 1956 in der Wiener Staatsoper Symphony in C aufgeführt hat, ist Karinska als Kostümbildnerin genannt. So darf ich wohl annehmen, dass der Eintrag im aktuellen Programmzettel „Einrichtung & Adaptierung der Kostüme: Stephanie Bäuerle“ durch den Hinweis auf die Schöpferin, Karinska, zu ergänzen ist. Die Solopaare – Hyo-Jung Kang / Masayu Kimoto, Olga Esina / Brendan Saye und Kiyoka Hashimoto / Davide Dato werden nicht zum ersten Mal mit Applaus überschüttet. Im 4. Satz tanzt die preisgekrönte Solotänzerin Alice Firenze, Cavaliere dell’Ordine della Stella d’Italia (Ritter des Ordens des Sterns von Italien), mit Timoor Afshar, der seit dieser Saison im Ensemble ist und in jeder neuen Rolle ein Debüt an der Wiener Staatsoper feiert. Der aus Indianapolis stammende Tänzer war bis 2023 Halbsolist im Stuttgarter Ballett, im Wiener Staatsballett ist er als Solist engagiert worden. Ein Foto von seinem Pas de deux mit Alice Firenze im 4. Satz habe ich nicht erhalten. Der Schlussapplaus gilt den Tänzerinnen ebenso wie der unbeschwerten Schönheit des Ballet blanc und dem Dirigenten des Abends Fayçal Karoui.Weniger heftig sind erwartungsgemäß die Begeisterungsstürme nach Marco Goeckes dunklem Ballett Fly Paper Bird. Seine außergewöhnliche, mitreißende Tanzsprache macht ihn zu einem der erfolgreichsten Choreografen der Welt. Daran kann auch die peinliche „Hundekot-Affäre“ in Hannover nichts ändern. Die fiebrigen Bewegungen der Tänzerinnen, das Flattern mit den Armen und Händen, die rasanten Drehungen treffen mitten ins Sonnengeflecht und evozieren das Gegenteil des operettenhaften Titels (wie immer in der Manier der 1970er Jahre kleingeschrieben) für den dreiteiligen Abend „im siebten himmel“. Gustav Mahler soll sich so gefühlt haben. Goecke hat aus Mahlers 5. Symphonie die Teile „Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz“ sowie „Adagietto. Sehr langsam“ als Musik für die mit dem Wiener Staatsballett erarbeitete Choreografie gewählt. Da kann ich nur sagen: „Na und?“ Goeckes Ballett landet nicht in der 7. Hölle. Gegen Ende, nachdem alle Flug- und Fluchtversuche der desorientierten, dunklen Figuren gescheitert sind, schlüpfen die Frauen und Männer mit weichen Bewegungen unter die Flügel des Vogels, der im Titel zum Fliegen aufgefordert wird. Das tut er dann auch, hebt die silbrigen Flügel und steigt in die Höhe: „Tanzen ist das Gegenteil vom Tod“ (Marco Goecke). Inspiriert hat ihn das Gedicht „Mein Vogel“ von Ingeborg Bachmann. Eben ist bekannt geworden, dass der „Superstar mit Spleens“ (RedaktionsNetzwerk Deutschland) ab der Saison 2025 / 26 Ballettdirektor in Basel sein wird. Nachdem Goecke im Vorjahr nach dem Eklat im Foyer von seinem Posten als Ballettdirektor an der Staatsoper Hannover suspendiert worden ist und für seine Unbeherrschtheit eine Geldbuße bezahlt hat, wird Goecke ab 2025 künstlerischer Leiter der Basler nie sein. Intendant Benedikt von Peter nennt den Choreografen „einen Ausnahmekünstler, der eine zweite Chance verdient hat.“ Wien darf sich glücklich schätzen, eine der mehr als 90 Choreografien, die von allen großen Ballettkompanien der Welt gezeigt werden, im Repertoire zu haben. In der aktuellen Saison werden noch drei Vorstellungen von „Fly Paper Bird“ als Höhepunkt des dreiteiligen, Im siebten Himmel genannten Abends gezeigt
Marginalie vom Boulevard: Der Spender des Wurfgeschosses, das im Gesicht einer deutschen Kritikerin gelandet ist, Goeckes geliebter Dackel, Gustav, ist Ende November 2023 gestorben. Damit hat der Schwamm die Affäre endgültig gelöscht.
Ceterum censeo: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass es unsinnig ist, die Vorstellungen des Staatsballetts auf zwei Websites zu verteilen. Das Wiener Staatsballett verdient eine eigene Website.
Im siebten Himmel, dreiteiliger Abend mit Werken von Martin Schläpfer, Marco Goecke und George Balanchine.
Marsch, Walzer Polka
Choreografie: Martin Schläpfer; Bühne & Kostüme: Susanne Bisovsky. Musik von Vater und Sohn Johann Strauß und Josef Strauß.
Fly Paper Bird
Choreografie: Marco Goecke; Bühne & Kostüme: Thomas Mika. Musik: Gustav Mahler.
Symphony in C
Choreografie: George Balanchine © The School of American Ballet, Einrichtung & Adaptierung der Kostüme (von Karinska): Stephanie Bäuerle. Musik von Georges Bizet.
Dirigent des Orchesters der Wiener Staatsoper: Fayçal Karoui. Wiener Staatsballett, Jugendkompanie der Ballettakademie der Wiener Staatsoper in der Staatsoper.
Fotos: © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor
10. Aufführung, am 21. Mai 2024. Letzte Aufführungen in dieser Saison: 24., 31. Mai, 3. Juni 2024.