Marco Goecke: „Tanz ist das Gegenteil von Tod“
Marco Goecke, Martin Schläpfer und George Balanchine sind die Choreografen eines dreiteiligen Abends, der unter dem Titel „Im siebten Himmel“ im Herbst 2021 zum ersten Mal aufgeführt worden ist. Im Jänner und im April dieses Jahres steht er wieder im Kalender. Getanzt wird in Schläpfers Choreografie zu „Marsch, Walzer, Polka“ der Strauß-Familie; Zu Teilen aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie bei Goecke und zur Symphonie in C des 17-jährigen Georges Bizet in Balanchines Choreografie gleichen Titels.
Das Wiener Staatsballett hat sich auch am besuchten Freitagabend von seiner besten Seite gezeigt.
Was auch geschieht:
die verheerte Welt sinkt in die Dämmerung zurück,
einen Schlaftrunk halten ihr die Wälder bereit,
und vom Turm, den der Wächter verliess,
blicken ruhig und stet die Augen der Eule herab.
Was auch geschieht du weißt deine Zeit
mein Vogel, nimmst deinen Schleier
und fliegst durch den Nebel zu mir
Aus Ingeborg Bachmanns Gedicht „Mein Vogel“.
Der Lorbeer in diesem dreigeteilten Ballettabend gebührt eindeutig Marco Goecke für seine mit dem Wiener Staatsballett erarbeitete Choreografie „Fly Paper Bird“, uraufgeführt 2021. Umrahmt wird dieses intensive, recht düstere Ballett von Martin Schläpfers 2006 geschaffenem Strauß-Potpourri „Marsch, Walzer, Polka“, wobei der Marsch von Johann Strauß Vater, dem Feldmarschall Radetzky (1766–1858) gewidmet, nach Walzer und Polka kommt. Bis dahin sollte unbedingt ausgeharrt werden, denn Jackson Carrolls Interpretation des eitlen Heerführers ist ein getanztes Kabarett, wie man es selten auf der Ballettbühne zu sehen bekommt. Choreograf Schläpfer hat seine für das Ballett am Staatstheater Mainz geschaffene Kreation mit den Kostümen von Susanne Bisovsky aufgehübscht. Ein niederschwelliges Programm, das nicht alle in der Abo-Vorstellung erfreute. „Unser Walzer wird verhunzt“, zeigte sich eine Wienerin erbost. Dennoch, Ketevan Papava vollführt mit Schwung, was Schläpfer sich als Donauwalzer vorgestellt hat. Nach einer Stunde (inklusive Pause) eröffnet Daniel Vizcayo, Solist im Wiener Staatsballett seit 2020/21, den bitteren Reigen in Marco Goeckes Choreografie „Fly Paper Bird“. Solos wechseln mit Duos, bis die gesamte Gruppe von vier Tänzerinnen und sieben Tänzern auf der Bühne ist, sich wieder zerstreut und wieder zusammenfindet. Verstrickungen in den Pas de deux, Umarmungen und Trennung, Einsamkeit, Isolation und Gemeinsamkeit, Trost und Wärme. Liebe ist auch ein Kampf. Ein trauriger Tänzer durchschreitet die leere Bühne, die Tänzerin (Helen Clare Kinney), im Gerangel mit dem Tänzer (Daniel Vizcayo) beginnt Verse aus Ingeborg Bachmanns Gedicht „Mein Vogel“ zu flüstern. Die Dunkelheit hat mich in die Arme genommen, die Bitternis sich eingesaugt.
Doch Goecke lässt mich nicht im Trübsinn erstarren, die Bühne hellt sich auf (Licht Udo Haberland), im Hintergrund wird der Flügel eines riesigen Vogels sichtbar. Ein Lachen (oder ist es doch ein Weinen?) wird hörbar, ein Mann und eine Frau hopsen als fröhliche Kinder umher, die Tänzer:innen suchen Schutz unter dem Flügel, allmählich erhebt sich der Vogel, wir sind gerettet.
Patrick Lange dirigiert das Orchester der Wiener Staatsoper, die von Goecke gewählte Musik aus Gustav Mahlers 5. Symphonie („Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz“ und „Adagietto. Sehr langsam“) ist kaum wiederzuerkennen. Das aus Funk und Film bekannte „Adagietto“ hat jegliche Süßigkeit verloren, verschmilzt mit den von Bühnen- und Kostümbildner Thomas Mika in schwarze Hosen und transparente, bemalte Oberteile, die wie Tattoos aussehen, gekleideten Tänzer:innen. Die Bühne hat Mika nur mit einigen Nebelschwaden ausgestattet, im Hintergrund lauert anfangs unkenntlich der Vogel, ist Bedrohung und Zuflucht zugleich.
Im Interview mit Anne de Paço sagt der Choreograf:
Tanz ist für mich nichts anderes, als das Leben zu bejahen, wenn wir uns im Theater treffen – das Leben in seinem Absurden, seinem Schönen, seinem Traurigen. Es gibt kaum eine Metapher, die mehr gefüllt ist mit Energie als der Tanz. Tanz ist das Gegenteil von Tod.
(Das Monatsmagazin der Wiener Staatsoper, No 9 / November 2021)
Danach ist die Pause fast zu kurz, um den Kulturclash abzuwenden. Das Aufeinanderprallen zweier Welten ist körperlich spürbar. Mancher Zuschauerin entringt sich ein Lachen, anderen ei freudiger Seufzer. Nach dem Auftritt von Kiyoka Hashimoto, der Hauptsolistin im 1. Satz von Bizets „Symphony in C“, und ihres Partners Masayu Kimoto, legt sich der Krampf. Die Spitzentänzerinnen in ihren wippenden, kurzen, strahlend weißen Tutus, die Männer, ernsthaft, ganz in Schwarz, lassen dieses Ballet blanc, das 1947 unter dem Titel „Le Palais de Cristal“ in Paris uraufgeführt worden ist, zum puren Genuss werden. Liudmila Konovalova, gestützt von Marcos Menha, brilliert in gewohnter Weise auf Spitze im 2. Satz. Ioanna Avraam und Géraud Wielick erfreuen im 3., bevor Sonia Dvořák und Lourenço Ferreira im 4. Satz das Finale einleiten, in dem das Damenensemble, die Solopaare und die vier Hauptpaare, also nahezu 50 Tänzer:innen, den Abend beenden.
„Im siebten Himmel“, Wiener Staatsballett in der Staatsoper. Musikalische Leitung: Patrick Lange, Orchester der Wiener Staatsoper
Gesehen am 20. Jänner 2023
„Marsch, Walzer, Polka“, Choreografie Martin Schläpfer, Bühne & Kostüme: Susanne Bisovsky. Musik: Johann Strauß (Vater), Johann Strauß (Sohn), Josef Strauß.
„Fly Paper Bird“, Choreografie: Marco Goecke, Bühne & Kostüme. Thomas Mika; Licht: Udo Haberland. Musik: Gustav Mahler, Text aus dem Gedicht „Mein Vogel“ von Ingeborg Bachmann.
„Symphony in C“, Choreografie: George Balanchine. Musik: Georges Bizet. Einrichtung und Adaptierung der Kostüme: Stephanie Bäuerle.
Fotos: © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor
Noch drei Vorstellungen im April: 3., 10., 13.4. 2023