F. Chaignaud, G. Jourdain: „Tumulus“, Festwochen
Magie ohne Pathos. Der französische Multikünstler und Historiker François Chaignaud kann das. Gemeinsam mit dem Musiker und Chorleiter Geoffroy Jourdain und 13 singenden Tänzer:innen / tanzenden Sänger:innen zeigt er einen Totentanz, ausgeführt von der bunten Gemeinschaft der Lebenden. Eine Prozession fröhlich hüpfender und niedergedrückt sich schleppender, ebenso anmutiger wie grotesker Körper, umtanzt und besingt den Tumulus, den Hügel über dem Grab, der als Monument im Zentrum der Bühne aufragt. Die Toten sind stumm, die Lebenden atmen, dem Publikum stockt der Atem. Der Zauber wirkt, kein Rascheln, Hüsteln, Räuspern 70 Minuten kurz.
Seit alters her ist es in den Büchern zu lesen: Leben und Tod gehören untrennbar zusammen. Dass die Kunst immer wieder daran erinnert, überrascht immer wieder von neuem. Wie luftig und leicht diese Erinnerung sein kann, zeigen Chaignaud und Jourdain mit dem Ensemble und löschen damit all die pathetischen, manipulativen Bilder im Prolog der Wiener Festwochen, Romeo Castelluccis ziemlich ranziges „Requiem“. Chaignaud, Jourdain und der Dramaturg, Baudouin Woehl, drücken nicht auf die Tränendrüsen, zeigen den Reigen und die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten und lassen die Figuren nicht um den Hügel herumtanzen, sondern erlauben, dass sie im Grab aus- und eingehen, fröhlich wie Kinder den Abhang hinunterrutschen und angekommen, einen Purzelbaum schlagen. Es darf auch gelächelt werden.
Tumuli gibt es in Europa allerorten, auch im österreichischen Großmugl (Weinviertel) ist solch ein über einer Begräbnisstätte aufgeschütteter Erdhügel zu finden. Er ist der größte in Mitteleuropa. Zeitlich eingrenzbar sind diese Mugeln (Hügel) nicht, für die Entstehung des Tumulus von Großmugl nennen Historiker die Hallstattzeit. Der Chor sing a cappella, klopft sich mit den Füßen den Takt, lässt sich vom eigenen Atem antreiben. Eigens gebaute Instrumente nützen die Luft, um Musik zu machen und auch miteinander in Dialog zu treten. Nicht verwunderlich, dass die Probenzeit an die zwei Jahre gedauert hat. Die Koproduzent:innen – Festivals, Theater- und Opernhäuser, Sponsoren und französische öffentliche Institutionen – sind kaum zu zählen, das Tumulus-Team enttäuscht sie nicht.
Alles fließt, könnte man auch als Motto über die Arbeit stellen. Nichts ist sicher, Veränderung hält die Welt in Gang, das Flüchtige, der ständige Wandel dreht auch die Parade.
François Chaignaud ist nicht nur Tänzer, Sänger und Choreograf, er ist auch Historiker und Forscher. In Wien ist er längst kein Unbekannter mehr, seine Auftritte als Tänzer mit Cecilia Bengolea im ImPulsTanz Festival reichen ins Jahr 2014 zurück und sind unvergessen. Bei ImPulsTanz 2018 verzauberte er gemeinsam mit Nino Laisné als „anderer Orlando“ („Romances inciertos, un autre Orlando“); bei den Wiener Festwochen 2019 hat Chaignaud gemeinsam mit der Musikerin Marie-Pierre Brébant in den Gösser Hallen mit „Symphonia Harmoniæ Cæelestium Revelatonum“ seine Forschungsarbeit zum musikalischen Œuvrre der Hildegard von Bingen auf die Bühne gebracht. Diesmal also „Tumulus“, von den Lebenden und den Toten, gemeinsam mit dem Leiter des berühmten französischen A-Cappella-Chores Les Cris de Paris, Geoffroy Jourdain. Eine neues Meisterwerk. Vergesst Castellucci!
François Chaignaud, Geoffroy Jourdain: „Tumulus“
Konzept: François Chaignaud, Geoffroy Jourdain. Choreografie: François Chaignaud; Musikalische Leitung: Geoffrey Jourdain; Dramaturgie : Baudouin Woehl ; Bühne: Mathieu Lorry Dupuy: Licht: Philippe Gladieux, Anthony Merlaud; Kostüme: Romain Brau; durchgeführt vom Team Wiener Festwochen. Aufführungen: 14., 15., 16. Mai 2022.