Castellucci, Pichon, Pygmalion, Mozart: „Requiem“
Als Prolog zu den Wiener Festwochen, die ihren tatsächlichen Beginn mit „Tumulus“ von François Chaignaud am 14. Mai feiern, bringt Romeo Castellucci seine Inszenierung von Mozarts „Requiem“ auf die Bühne in der großen Halle des Museumsquartier. Eine Koproduktion der Wiener Festwochen und der 11. Besuch Castelluccis in Wien. Mit ihm sind der Dirigent Raphaël Pichon und seine Formation Pygmalion samt Solist:innen und einer Schar von Bühnenlaien dabei. Nach der Premiere am 1. April warten noch drei Aufführungen auf ein begeistertes Publikum.
Festgehalten sei, dass Romeo Castellucci ein Magier ist, er zaubert Bilder auf die Bühne, die im Gedächtnis bleiben. Mit 60 ist er längst zur Ikone der Bühneninszenierung erhoben. Romeo Castellucci ist ein (oder der) Starregisseur. Er darf, was er kann, und er weiß sein Publikum zu faszinieren. Es gibt viel zu schauen und sicher ebenso viel zu übersehen, man bewundert ihn, auch wenn er Kinder auf die Bühne bringt und sogar vor einem Säugling nicht Halt macht. Anerkennend muss registriert werden: Auf das wedelnde Hündchen verzichtet er.
Zuerst die gute Nachricht: Das Ensemble Pygmalion unter Raphaël Pichon, die Solisten, Chor und die Tänzer:innen, die sich, Blumen- und Laub-geschmückt, vor allem dem folkloristischen Tanz (besonders beeindruckend, der perfekt durchgeführte Bandltanz) hingeben, und das engagiert unterstützende Laienensemble aus Wien, sind großartig, phänomenal, hinreißend, das Herz dieser Show. Energiegeladen tanzen und laufen sie, singen auch hockend und liegend, während das Publikum gemütlich in den Reihen sitzt. Sie alle, Solistinnen, Solisten, Darsteller:innen und die stets präsente große Gruppe an Mitwirkenden, die wohl die Gemeinschaft aller Menschen darstellt, müssen am Ende völlig erschöpft sein. Ihnen gebührt der Lohn.
Viel mehr als eine angenehm zu konsumierende Show ist Castelluccis Requiem-Inszenierung nicht – wundersam und eindrucksvoll gewiss, doch stolpert sie viel zu überladen ziemlich schwerfällig daher. Risiko wird da keines eingegangen, doch Castellucci ist ein bedeutender Regisseur, selbst wenn er einen üppigen leicht konsumierbaren Bilderreigen entrollt, der mit dem Tod beginnt und der Geburt endet. Dazu muss ein Baby auf der Bühne abgelegt werden, das unzufrieden kräht, während ein kleiner Bub den gregorianischen Choral „In paradisum“, von den Engeln, die die Toten ins Paradies geleiten sollen, singt. Programmierte Rührung und Berührung. Mit frommer Gregorianik beginnt auch das Sterben mitten im Leben. Die Greisin verschwindet einfach, ohnehin verschwindet alles, wie mit einer sich stetig verlängernden Liste gezeigt wird: Die ersten Toten, alte und junge Frau samt Kind, dürfen noch eine Weile unter den Lebenden weilen. Im weißen Hemd sehen sie vom Rand aus dem bunten Treiben zu, allmählich fallen die schwarzen Tücher, die Bühne hellt sich auf. Trauer beendet, die Toten trauern ohnehin nicht, das pralle Leben geht weiter. Die täglich fortzusetzende Liste, die, freundlich adaptiert für Wien, ohne Kommentar einfach arollt wie der Nachspann eines Kinofilms, ist wirkungsvoller als jeder Trauergesang. Alles verschwindet irgendwann, Tiere, Pflanzen, Gebäude, Traditionen, Gedanken, Gefühle, Menschen …
Erst kürzlich habe ich „Sechs mal sieben Miniaturen“ der Moskauer Autorin Ljudmila Ulitzkaja, ausgezeichnet mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2014, gelesen. Sie wagt es immer noch, sich lautstark gegen Putin zu äußern und den „Überfall der russischen Streitkräfte auf die Ukraine“ als den „Wahnsinn eines Mannes und seiner treuen Helfer“ zu bezeichnen. In der ersten der sieben Miniaturen geht es um das Sterben, um „Sieben Weltuntergänge“. Diese Miniaturen enden jeweils mit dem Satz: „Das war das Ende der Welt [später: der Menschenwelt], doch das erfuhr niemand… / Alle waren tot.“ In der siebenten Miniatur bedeckt eine glasartige Masse den Planeten: „Es war das Ende der Menschenwelt, doch diese Schönheit konnte niemand mehr sehen. / Alle waren tot.“
An diese Geschichten Ulitzkayas muss ich denken, wenn im letzten Teil des Spektakels eine Liste des Verschwindens / Sterbens abrollt. Zuerst wird gestorben, dann wird geboren, dazwischen wird gelebt, getanzt, gesungen und gefeiert. Castellucci kramt in seiner Gedächtniskiste und lässt alles auffahren, was schon einmal gewirkt hat. Nackte erste Menschen, die das Feuer erfinden, Autowracks als Ausgangspunkt für eine Himmelfahrt der Unfallopfer, ein Apfel, als Symbol des Lebens und der Natur, Trauerrituale und Götzendienst. Der krähende Säugling und der singende Knabe sind mir neu und ebenso unangenehm wie das kleine Mädchen, das, mit Farbe besudelt, als Spydergirl an der Wand hängen muss, später in ein Bärenfell gehüllt wird, um gegen Ende Pelz und Stock wieder abzuwerfen und wieder Kind sein darf.
Gestorben wird viel, gelebt noch viel mehr. Neu ist das nicht: „Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. / Und sieh dir andre an: es ist in allen“, hat schon Rilke gewusst und im frühen Mittelalter hat es geheißen, und heißt es noch heute: „Media vita in morte sumus / Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.“ Für Castellucci ist das kein Grund zum Weinen. Muss man auch nicht. Ohne Dunkelheit kein Licht, ohne Winter kein Sommer, ohne Tod kein Leben. So ist das und Castellucci ist ein großartiger Mann. Nachtrag: Nach dem nahezu endlosen, dem Ensemble enthusiastisch gespendeten, Applaus, bewegt sich das Publikum aus der bis zum letzten Platz gefüllten Halle G im Museumsquartier zum Futtertopf. „Wohin gehen wir“, fragt der Mann hinter mir seine Freundinnen, „ich kenn den Japaner hier in der Nähe, der hat die besten Sushi, die ich je gegessen habe.“ Und beim Weitergehen höre ich auch eine besonders brisante Frage: „Was sagst du jetzt zu dem neuen Parkettboden?“ Tja, man war dabei, hat den Bilderbogen „berührend“ gefunden, hat die Spiele gesehen, das Brot gibt es danach, und Castellucci ist ein ehrenwerter Mann.
Romeo Castellucci, Wolfgang Amadeus Mozart, Raphaël Pichon, Pygmalion: „Requiem“
Regie, Bühne, Kostüme, Licht Romeo Castellucci. Musikalische Leitung: Raphaël Pichon. Dramaturgie: Piersandra die Matteo. Choreografie Evelin Facchini.
Produktion Festival d’Aix -en-Provence, Uraufführung: 3. Juli 2019 in Aix-en-Provence. Koproduktion Wiener Festwochen und andere, durchgeführt vom Team der Wiener Festwochen. Vorstellungen: 1., 2., 4., 5. April 2022.
Fotos: Pascal Victor / ArtComPress-Festival-dAix-en-Provence
Ljudmila Ulitzkaja: „Alissa kauft ihren Tod“, Erzählungen, aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Hanser 2022. 304 Seiten. 25,70 €