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Der Fluch des Rassismus: Hass gebiert neuen Hass
Der erfolgreiche Autor Dennis Lehane ist in Boston / Massachusetts geboren und aufgewachsen, und in Boston spielen auch die meisten seiner Thriller. In seinem jüngsten Roman, Sekunden der Gnade / Small Mercies, befasst er sich mit dem sichtbaren und nicht gleich erkennbaren Rassismus. Auslöser dafür sind die Erinnerungen an seine Kindheit in Boston. Er war neun Jahre alt, als er 1974 in eine aufgebrachte Menge geriet, die gegen das School-Busing, die verordnete Desegregation, protestierte. In South Boston, vor allem von den Abkommen irischer Einwanderer bewohnt, randalierte der weiße Mob. Autor Dennis Lehane verarbeitet die grausigen Szenen von Hass und Gewalt, die tief in seinem Gedächtnis sitzen, in einem aufwühlenden, spannenden Roman.
Es gibt einen Kernsatz in dieser Geschichte von der Suche einer verzweifelten Mutter nach ihrer verschwundenen Teenagertochter und der Trauer einer anderen Mutter, deren Sohn aus unerklärbaren Gründen von einer U-Bahn überrollt worden ist. Mary Pat, die mit ihrer Tochter Jules in „Southie“ lebt und wie alle im Viertel von der irischen Mafia beschützt und regiert wird, hält sich nicht für eine fanatische Rassistin, nimmt auch an der Demonstration nicht teil, und als Jules am Abend nicht nach Hause kommt, hat sie nur noch ein Ziel, sie muss „das einzige, was sie hat“, finden. Die Polizei kann nicht helfen, und bald ist Mary Pat sicher, dass Jules tot ist. Sie macht sich auf, um Rache zu üben. Koste es, was es wolle. Mary Pat arbeitet als Krankenhaushelferin in einem Seniorenheim, dem Meadow Lane Manor in Bay Village, einer Gegend, die sich nicht entscheiden kann, ob sie schwarz, weiß oder schwul sein will. Ihr Dienst beginnt mit dem Verteilen des Frühstücks, das machen sie zu viert: Gert, Anne und Dreamy, die einzige Schwarze im Team. Alle mögen Dreamy. Sogar für Dotty Lloyd, der die Schwarzen leidenschaftlich verhasst sind, ist Dreamy ein »guter Nigger«. »Würden sie alle so schuften«, hat Dotty einmal zu Mary Pat gesagt, »und wären sie alle so höflich – ja Scheiße, dann hätte keiner ein Problem mit denen.« Dreamy ist die Mutter von dem »Niggerdealer« , der in der Columbia Station »untern Zug« geraten ist und am Morgen den Pendlerverkehr versaut hat. Dotty sagt das einfach so dahin, wobei nirgends gesagt worden ist, ob der Tote Auggie ein Dealer war. Schuld ist er auf jeden Fall selber an seinem Tod, denn was hat er in einem „Weißen-Viertel“ zu suchen? Dotty oder Anne oder Gert würden sich niemals als rassistisch bezeichnen, „aber die meisten Nigger sind eben Dealer“, sagen oder denken, falls man sie fragte, wie sie auf die Einordnung des Toten kämen.
Dennis Lehane, der mitten in einer Welt des Hasses und des Rassismus, lautstark und bewusst, schleichend und unbewusst, aufgewachsen ist, hat sich nicht infizieren lassen. Er nützt seine Begabung, spannende Geschichten zu schreiben, die immer aus dem Leben gegriffen sind und neben der vordergründigen Handlung Themen behandeln, die uns alle angehen, um über den Preis dieses Hasses zu reflektieren und die Leserinnen zum Nachdenken zu verführen. Der Polizist Michael Coyne, genannt Bobby, der Mary Pat wohlgesinnt ist und sie vor den fatalen Folgen ihrer allzu gründlichen Suche nach dem Verbleib von Jules warnt, jedoch nicht bewahren kann, machen die Ereignisse auch nachdenklich und er kommt zu dem Schluss, dass das Gegenteil von Hass nicht Liebe ist. Sondern Hoffnung. Denn Hass braucht Jahre, um sich zu entwickeln, aber Hoffnung kann um die Ecke gefegt kommen, wenn man nicht mal hinsieht. Lehane erzählt von ganz gewöhnlichen Menschen, die sich des unterschwelligen Rassismus kaum bewusst sind. In einem Gespräch, das Scott Simon für NPR mit Dennis Lehane anlässlich des Erscheinen von Small Mercies in den USA über das Thema Rassismus und Hass geführt hat, erklärt Lehane, wie er das Virus Rassismus und seine Verbreitung erlebt hat:
Mary Pat räumt ein, dass sie einen gewissen Rassismus hat, aber sie versteht nicht, wie tief er geht. Sie denkt, dass ich im Vergleich zu all den anderen fanatischen Rassisten um mich herum gar nicht so rassistisch bin. Und so macht sie sich auf die Reise, um das schreckliche Erbe ihres Rassismus zu verstehen, die Art und Weise, wie er an sie weitergegeben wurde, die Art und Weise, wie sie ihn an ihre Kinder weitergegeben hat, und wie all das letztlich mit allem zusammenhängt, was in diesem Buch geschieht. Und das ist die große Tragödie. Und an einem Punkt kommt sie zu der Erkenntnis, dass es etwas ist, das ihr verkauft wurde, und dass sie es dann an ihre eigenen Kinder verkauft hat. (© © 2023 NPR)
Die „kleine Gnade“, die dem Roman den Titel gegeben hat, offenbart sich erst ganz am Schluss, wenn die beiden Mütter, die in unterschiedlichen Welten leben (müssen), wissen, was mit ihren Kindern tatsächlich passiert ist. Dieser Hoffnungsschimmer, der „um die Ecke gefegt kommt“, ist ein Geschenk des Autors an die Leserinnen, damit sie an der Möglichkeit, dass der Hass geringer und die Welt besser wird, festhalten.
Dennis Lehane: Sekunden der Gnade, Small Mercies, Aus dem amerikanischen Englisch von Malte Krutzsch, Diogenes 2023. 400 Seiten. € 26,80. E-Book € 22,99.
Die kursiven Textstellen sind Zitate aus dem Buch.