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Der Körper als Tyrann. Loslassen ist die Parole.
Tänzer bleiben Tänzer, auch wenn sie älter werden und der Körper Grenzen setzt. In einer Fernseh-Dokumentation beleuchtet Henrike Sanders den schwierigen Prozess des Abschieds von der Bühne, dem Freundeskreis, dem täglichen gemeinsamen Training. Ballettstars wie Polina Semionova oder Friedemann Vogel reflektieren über diese Zeit des Übergangs. „Ich denke immer, das Beste kommt noch“, sagt der Ausnahmetänzer Friedemann Vogel. Der eindrucksvolle Film mit Interviews und Ausschnitten aus dem Ballettsaal und von Aufführungen ist ab 20. November auf ARTE zu sehen. Auch Ballettfans müssen stark ein: Die Beginnzeit der 50 Minuten ist 23.25 Uhr.
Es ist die Illusion der Schwerelosigkeit und zugleich ein romantisches Klischee: anmutige Luftwesen, die feengleich in Tüllröcken über die Bühne schweben. Wer an die Kunstform Tanz denkt, trägt unweigerlich Bilder von scheinbar endlos biegsamen Körpern, voller Schönheit, Kraft und Jugend in sich. Doch der Eindruck täuscht: Tanz ist Schwerstarbeit, eine Hacklerpension gibt es dafür nicht. Irgendwann sagt dann der Körper „Stopp“. Mit wenigen Ausnahmen haben die meisten Tänzer mit 40 Jahren ihren Zenit erreicht. Das Duett mit der eigenen Vergänglichkeit beginnt und ein möglicher Bühnenabschied wird absehbar. Doch das Aufhören ist ein schwieriger Prozess.
William Moore, Erster Solist im Ballett Zürich, geleitet von Christian Spuck, hat das Ende seiner Bühnenkarriere bewusst gewählt und sich als Peer in Edward Clugs Ballett "Peer Gynt" vom Publikum verabschiedet. In Wien ist diese den Tänzer:innen Respekt erweisende Tradition nicht mehr üblich, sie müssen sich ohne Aufsehen fortschleichen. „Peer Gynt“ von Edward Clug ist in der Saison 2018/19 auch vom Wiener Staatsballett getanzt worden. Das Ende ist besonders berührend: Solveig nimmt den alten Peer an der Hand und gemeinsam gehen sie durch eine Tür, die hinter ihnen zufällt. Moore weiß jedoch, dass hinter dieser Tür Neues auf ihn wartet, er ist neugierig „auf das nächste Abenteuer.“
Die „Berliner Kammertänzerin“ Polina Semionova hat eine doppelte Bürde zu tragen, sie ist auch Mutter einer Tochter und will „beides perfekt sein. Tänzerin und Mutter.“ Ans Aufhören denkt sie noch nicht, doch ahnt sie, dass die Zeit kommen wird „dass ich mich im Tutu nicht mehr wohlfühle. Dann werde ich aufhören.“ Als Sylphide vielleicht, doch das künstlerische Potenzial wohnt weniger dem straffen, beweglichen Körper inne als vielmehr der Lebenserfahrung, die vielen Tänzer:innen jenseits der Jugend magische Strahlkraft verleiht. Nicht nur Jiři Kylián hat das mit der Gründung seines NDT 3, der kleinen Company für ältere Tänzer:innen erkannt. Tradierte Erwartungshaltungen an technische Perfektion und die Glorifizierung der Jugend und Fitness werden auch vom Tänzer Ty Boomershine infrage gestellt. Er hat in Berlin das Dance On Ensemble gegründet und zeigt mit Tänzer:innen über 40, dass es auch anders geht und dass alle dabei gewinnen: die Tänzer, die Tanzkunst und die Gesellschaft.
Die 85-jährige Tänzerin Marcia Haydée, bei der Vogel gelernt hat, meint: „Tanz, das ist nicht die Karriere, Tänzer zu sein, das ist ein Leben.“ Und Vogel tröstet sich und uns: „Vielleicht ist das auch das Schöne, dass es nicht immer weiter gehen kann.“ Dennoch denkt er noch nicht an das Alter, er verlässt sich auf seinen Körper und der hat noch nicht „Stopp!“ gerufen.
Dance On! Zwischen Applaus und Abschied.
Dokumentation von Henrike Sander, ZDF / ARTE. Moving Images, Deutschland, 2022. Ausstrahlung: 20.11. 2022, 23.25 Uhr, ARTE.
Danach bis 19.12. in der Mediathek arte.tv
Zu Wort kommen:
Marcia Haydée, geboren 18. April 1937, eine der großen Ballerinen des 20. Jahrhunderts, Primaballerina im Stuttgarter Ballett unter der Leitung von John Cranko, dessen Nachfolgerin sie als Ballettdirektorin wurde.
Polina Semionova, geboren am 13. September 1984, Principal Guest im Staatsballett Berlin, Honorarprofessorin an der Staatlichen Ballettschule Berlin.
Friedemann Vogel, geboren am 1. August 1979, Kammertänzer am Staatstheater Stuttgart und Gast auf vielen Bühnen in der ganzen Welt.
William Moore, zuletzt Erster Solotänzer im Ballett Zürich. Im heurigen Sommer hat sich der 38-Jährige als „Peer Gynt“ (Edward Clug) von der Bühne verabschiedet.