Donal Ryan: „Die Lieben der Melody Shee“, Roman
Der irische Schriftsteller Donal Ryan läßt diesmal, in seinem dritten auf Deutsch erschienen Roman, von einer Frau erzählen. Melody Shee erwartet ein Kind, das nicht von ihrem Mann ist. Die neun Monate bis zur Geburt hält sie in einer Art Lebensbeichte fest, erzählt vom Schwinden der Liebe und der Sehnsuch nach Glück. Begleitet wird sie von der jungen Mary Crothery, ebenfalls einer Ausgestoßenen. Einfühlsam schildert Ryan die Gefühlsverwirrungen der beiden Frauen, die durch ihre Eigenwilligkeit die gesellschaftlichen Normen überwinden.
In den heruntergekommenen Wohnsiedlungen sowie auf den verwilderten Plätzen, auf denen die Wohnwagen der nomadisch lebenden Famlien parken, herrschen strenge Regeln. Wer sie übertritt, wird missachtet, beschimpft, gequält. Melody Shee – der Name klingt wie der einer Fee – ist so eine „Verworfene“. Sie erwartet ein Kind von "einer flüchtigen Internetbekanntschaft“, sagt sie. Doch der Vater ist ein junger Bursch, dem sie, eine Lehrerin ohne Anstellung, Lesen und Schreiben beibringen sollte. Zweimal schon hat sie eine Fehlgeburt gehabt. Um ihr weiteres Leid zu ersparen, hat sich ihr Mann, der Arbeiter Pat, sterilisieren lassen. Melody leidet, weil er lieber zu Prostituierten geht und sie nicht mehr anrührt. Einmal nur lässt sie sich vom hitzigen Begehren des Halbwüchsigen hinreißen, doch sie erzählt dem Jungen aus der Traveller-Siedlung (so werdein in Irland die Fahrenden genannt) nichts, weigert sich auch, das Kind abtreiben zu lassen, wie es ihr Mann verlangt. Wutentbrannt verlässt er sie, kehrt ins Elternhaus zurück. Wie Pats Eltern verachtet bald das ganze Dorf die schwangere Ehebrecherin, Pat gilt als schuldlos und wird bemitleidet. Melody bleibt allein mit ihren Selbstvorwürfen, mit ihren Fragen, warum alles schief gelaufen ist.
Um der Einsamkeit zu entkommen und auch aus Neugier, besucht Melody die Wohnwagensiedlung auf der Suche nach ihrem Schüler. Statt diesem findet sie seine Cousine, Mary Crothery. Auch Mary fühlt sich schuldig: Sie hat ihren Ehemann verlassen, weil sie ihm keine Kinder gebären konnte. Dass er sie geschlagen hat, war nicht der Grund, in den Familien der Traveller schlagen alle Männer (nicht nur) ihre Frauen. Der Liebe kann das nichts anhaben. So wie Pat Melody, hat auch Buzzy Mary geliebt, obwohl es eine Zwangsheirat war, die einen Friedensschluss zwischen zwei verfeindeten Clans besiegeln sollte. Dann hat Mary ihren Mann "frei gegeben". Gegen die Tradition. Nun herrscht Krieg zwischen den beiden Familien, und auch innerhalb der Familie Marys. Sie wird gequält und misshandelt.
Beide Frauen fühlen sich schuldig, vor allem Melody denkt immer wieder nach, wann ihre Liebe zu Pat aufgehört hat und denkt, dass sie es war, die durch ihr Verhalten alles zerstört hat. Das war schon in der Schule so, als sie ihre beste Freundin und erste große Liebe verraten hat, weil sie unbedingt zur Gruppe der gutaussehenden, tonangebenden Mädchen gehören wollte. Doch als Freundin von Breedie war das nicht möglich, also hat sie ihre Liebe verraten. Die Reue quält sie, sie kann nicht aufhören mit sich zu hadern, fühlt sich selbst als Abschaum.
Die beiden Frauen, Melody mit der weißen Haut und Mary mit den glühenden Augen, fassen Vertrauen zu einander. Immer öfter besucht Mary, auch gegen den Willen ihrer Familie, die einsame Melody in ihrem Haus, um lesen zu lernen. Bald verbindet nicht nur die Ähnlichkeit der Schicksale, getragen von Selbstvorwürfen, die beiden Frauen. Vor allem Melody fühlt sich von der tapferen Mary auch körperlich angezogen.
Während die Frauen von Liebe träumen, können die Männer ihre Aggressionen kaum beherrschen, Gewalt liegt ständig in der irischen Luft, bricht immer wieder los. Zertrümmerte Möbelstücke, verprügelte Frauen, bis aufs Messer kämpfende Männer, sind an der Tagesordnung.
Ryan fängt Stimmungen und Gefühlsausbrüche, Zärtlichkeit und Gewalt poetisch und auch mit aller Brutalität ein. Gekonnt lässt er Melody in ihrer Beichte Gegenwart und Vergangenheit ineinanderfließen, erzählt wie aus Liebe Entfremdung und auch Hass werden kann. Doch lässt der mehrfach preisgekrönte Autor seine Leserinnen diesmal nicht im Elend verharren. Melodys Kind, ein Mädchen, ist gesund zur Welt gekommen, und sie fasst einen überraschenden Entschluss. Der Abschied von Mary, die mit neuem Partner in die Zukunft reist, schmerzt Melody, dennoch blickt sie hoffnungsvoll nach vorn. Alles könnte gut werden, wird gut.
Donal Ryan: „Die Lieben der Melody Shee“. Originaltitel: „All we shall know“, aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll, Diogenes 2018. 304 S. € 22,70.