Parasol: Elizabeth Ward entert das Tanzarchiv
Als wollten sie eine Barkasse einholen, ziehen fünf junge Frauen an unsichtbaren Seilen. Die Tänzerinnen sind keine Matrosinnen, die Taue, an denen sie zerren, die sie loslassen und neu verbinden, führen in die Tanzvergangenheit. In der Choreografie A rolling hitch erforscht Elizabeth Ward mit der Tanzgruppe Parasol, was vom europäischen Tanzerbe geblieben ist. Nach drei Monaten Forschungs- und Probezeit war Premiere in der Halle G im Museumsquartier.
Die große Bühne der Halle G ist leer, an den Seitenwänden und von der Decke hängen geraffte samtschwarze Vorhänge. Sie werden geöffnet und wieder gerafft, am Ende fallen sie herunter, die Vergangenheit verschwindet im Heute.
Nach den Bauchmuskelübungen, dem Zerren und Reißen an den Tauen, die ins frühe 20. Jahrhundert führen, als die Tänzerin und Choreografin Bronislawa Nijinska ihre Hauptwerke Les Noces (1923) und Les Biches (1924) zum ersten Mal gezeigt hat. Aus diesen beiden Werken und auch aus den berühmten Choreografien von Bronislawas Bruder Waslaw zitiert die Choreografin. Elizabeth Ward kann an einem Tau ziehen, das sie direkt mit Nijinska verbindet. Als sie in Atlanta Tanz studierte, hatte sie einen Lehrer, der in den 1940er Jahren von Nijinska in ihrem Tanzstudio in Hollywood unterrichtet wurde. Auch Bronislawa Nijinskas Verbindungen zu Wien sind noch vorhanden, nicht nur durch die 37 Tage, die sie 1930 Direktorin des Wiener Staatsopernballetts gewesen ist. Ich erlaube mir, das lebende Archiv Boris O. zitieren:
Als Tänzerin oder durch ihre Werke war Nijinska dennoch immer wieder in Wien präsent. Bereits 1912 und 1913 als Mitglied von Serge Diaghilews Ballets Russes in der Hofoper; 1921 war Wien die erste Station nach ihrer Flucht aus Kiew (sie nahm ein mehrwöchiges Engagement im Moulin Rouge in der Liliengasse an); bei einem erneuten Gastspiel von Diaghilews Ballets Russes 1927 an der Wiener Staatsoper war u. a. Nijinskas Les Biches zu sehen; […] Nach Nijinskas Tod fand eines ihrer Hauptwerke, Les Noces, Eingang in das Repertoire des Balletts der Wiener Staatsoper (Premiere der Einstudierung: 30. April 1988).
Doch Elizabeth Wards Choreografie bleibt nicht in der Vergangenheit stecken: „Rolling Hitch will an die Geschichte anknüpfen, ihre Verbindungen prüfen und an ihnen zerren – oder sie fallen lassen, um in einer neuen Choreografie selbst die Regeln festzulegen.“ (Programminformation)
Ward hat zwar eine Gruppenchoreografie geschaffen, doch lässt sie ihre Tänzerinnen auch das körpereigene Tanzarchiv erforschen, so darf sich jede der fünf als Individuum präsentierten. Helena Araújo ist eine körperbetonte, akrobatische Tänzerin mit beeindruckender Bühnenpräsenz. Sie schafft es, auch während rasender Passagen im Lauf den Kontakt zum Publikum zu halten. Nahezu als Gegenstück fällt Viltė Švarplytė auf, schlank und großgewachsen zeigt sie mit weichen Bewegungen, dass ich auch Freude am klassischen Ballett hat. Auch Elda Gallo, Yoh Morishita und Jennie-love Navoret merkt man die Freude am Tanzen an und sieht auch, welche Fortschritte sie seit ihrem Auftritt im April gemacht haben. Alle fünf strahlen Energie und Sicherheit aus, wenn sie die große Bühne der Halle G erobern. Ob sie Positionen und Bewegungen zitieren, aus dem eigenen Repertoire schöpfen, sich als Solistin kurz im Mittelpunkt drehen oder gemeinsam im Rhythmus der Geräuschkomposition in einer Linie tanzen. Waren die Anfänge des Programms Parasol 2022 noch etwas holprig, so hat dieses Jahr mit einer Choreografie von Ulduz Ahmadzadeh und Elizabeth Ward gezeigt, dass die Idee von ganz anderen Workshops oder Trainings mit einem festen Ziel, Früchte trägt. Und auch, dass der Tanz – die Bewegung zur Musik, das Sprechen mit dem Körper – allmählich wieder seinen ihm zustehenden Platz einnimmt.
Elizabeth Ward / Parasol: A rolling hitch, 13., 14.12. 2024, Tanzquartier
Konzept, Choreografie Elizabeth Ward
Von und mit PARASOL – Helena Araújo, Elda Gallo, Yoh Morishita, Jennie-love Navoret, Viltė Švarplytė
Sounddesign Özgür Sevinç; Lichtdesign Thomas Zamolo; Kostüme Caroline Haberl.
Fotos © Markus Gradwohl.