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Ali Smith: „Wem erzähle ich das?“, Roman, oder?

Ali Smith, nur ein Abbild © Atonio Olmos / The Guardian

Vier Vorlesungen in vergleichender Literaturwissenschaft formen sich zu einem großartigen Buch, werden zum Roman über Kunst und das Leben, über die Zeit, den Tod und die Liebe. Die britische Autorin und Komparatistikprofessorin Ali Smith, hat dieses Kunststück zustande gebracht. 2012 hat sie ihre Überlegungen und die Geschichte als vierteilige Vorlesung in Oxford einem staunenden Publikum zu Gehör gebracht. Eine Vorlesung, wie sie noch niemals gehalten und gehört worden ist. Eine Geschichte der Literatur, eine Geschichte, die sich an eine Tote wendet, die die Erzählerin besucht und ihre Arbeit begleitet, geheimnisvoll, zauberhaft und zugleich ein Gedankenstrom, der unaufhörlich in sanften Wellen fließt. „Artful“ nennt Smith das gedruckte Epos, was nicht nur kunstvoll sondern auch raffiniert bedeutet.

Überlegungen zu „Zeit“, „Form“, „Ränder“ und „Widerspiegelung“ thematisiert Smith in den Vorlesungen, deren Titel sowohl die Betrachtungsweise von Literatur und Kunst wie auch die Gedanken der Icherzählerin der Fiktion betreffen. Geist und Fantasie fließen ineinander, keine schalen oder trockenen Stellen erlaubt sich die Autorin und ruft in der Leserin ehrfürchtiges Staunen hervor, animiert diese zu begeistertem Eintauchen in ihre Gedankenwelt.

Dass man nicht sämtliche Werke der zitierten und besprochenen Autor_innen kennt, macht gar nichts, man kann den Ausführungen dennoch leicht folgen. Im Zentrum aller Vergleiche und Erläuterungen taucht immer wieder Charles Dickens’ „Oliver Twist“ auf, den die Erzählerin am Tag, an dem ihre tote Freundin im Zimmer sitzt und nach Worten ringt, wieder einmal zu lesen beginnt. Die Erzählerin ist traurig, hat sie doch ihre Liebe, die Lebensgefährtin und Mentorin, verloren.
Das muss eine vortragende Professorin am St Anne’s College (ursprünglich für Heranbildung von Frauen gegründet) einmal wagen: Die Vorlesung mit der Erzählung von einer Toten, die schmutzig, das Haar voll Sand und Staub, die einst blauen Augen nur noch schwarze Löcher, vor dem Fernseher sitzt und sich mit der Icherzählerin unterhält, zu beginnen und der Trauer über den Verlust freien Lauf zu lassen. Das Universitätsgelände von Oxford, Ort der Vorlesung © Wallace Wong

Den Inhalt des Romans zu referieren, ist ebenso unsinnig, wie die Erkenntnisse aus den vier Vorlesungen wiederzugeben. Nur so viel: Smiths literarisches Spektrum reicht über Jahrhunderte, von der griechischen Mythologie über Ovid, Michelangelo, Dickens und Brecht bis zu Beyoncé (sic).

Komparatistik! Da wird verglichen: die Lebenden mit den Toten, die Äpfel auf einem Bild mit den realen Früchten, die Menschen mit den Bäumen. „Es wird immer einen Dialog geben zwischen Form und Inhalt.“

Oxford: Detail, das man auch der Krimiserie "Lewis" kennt. © Lizenzfrei Artful – Ali Smith ist  raffiniert, so fintenreich wie geschickt und entwickelt ihre Vorträge überaus kunstvoll . Wie sie eine längst der Universität und dem wissenschaftlichen Diskurs entwachsene Leserin dazu bringt, atemlos in ihr Werk einzutauchen, Zitate nachzuschlagen, Gedichte zu rezitieren, Autorinnen-Biografien zu lesen und Oliver Twist auf das Nachtkasterl zu legen, das ist einmalig, einfach wundervoll. Doch den Trick wird Buchcover © Luchterhand ihr kaum jemand nachmachen können. Professor_innen haben unverständliches Fachchinesisch zu sprechen, sollen seelenlose Wissensmaschinen sein und die Poesie den Dichtern überlassen. Und Humor? Ali Smith jedenfalls erlaubt sich Humor und Ironie, stellt mehr Fragen, als sie Antworten gibt und beharrt darauf, dass jedes Ding zwei Seiten hat und beide die richtigen sind. Übrigens, aus diesem Wissen heraus ist auch ein anderer Roman entstanden, genau so wunderbar poetisch, klug und fesselnd: „Beides sein“ (Luchterhand, 2016). Auch dieses Buch ist von Silvia Morawetz übersetzt, die mit der englischen Sprache so vertraut ist wie mit der Deutsch und Smiths genaue Wortwahl samt ihrem poetischen Ton und der unterschwelligen Ironie genau trifft. Perfekter und zugleich unterhaltender Genuss.

Ali Smith: „Wem erzähle ich das?“, Originaltitel: „Artful“, übersetzt von Silvia Morawetz, Luchterhand, 2017. 224 S. € 20,60