Ali Smith: „Beides sein“
Die schottische Autorin Ali Smith versteht es immer von neuem, ihre Leserinnen zu beglücken. Tatsächlich! Auch mit ihrem jüngsten Roman gelingt ihr das, auch wenn sowohl der Titel wie der Klappentext etwas verwirrend sind. Zwei Leben beschreibt Smith, die, obwohl 500 Jahre auseinander liegend, mit einander verwoben sind. So ist es möglich dass der italienische Maler Francesco del Cossa († 1477) beobachtet wie die 16jährige Georgia nach dem Tod der Mutter wieder ins Leben zurückfindet.
Leben, Träumen und Denken (aber nicht Wirken) des Renaissancemalers aus Ferrara del Cossa sind imaginiert. Die Autorin meint, eigentlich sei Francescho (sic!) ein Mädchen, das als Maler nur reüssieren konnte, wenn es sich zum Knaben wandelte. Was ihn mit Georgia, die immer nur George gerufen wird, wie ein Bub, verbindet ist das androgyne Aussehen. Doch als Francescho George auf einem Mäuerl sitzen sieht, weiß er sofort: „Dieser Knabe ist ein Mädchen.“
Der Titel ist somit klar: Beides zu sein ist möglich. Doch es geht Ali Smith keineswegs um irgendwelche Gender-Probleme sondern um die beiden Seiten der Medaille Welt. Sogar tot und gleichzeitig lebendig zu sein, ist möglich. Immer wieder erinnert sich George an Szenen mit ihrer Mutter, vor allem an deren schwer zu beantwortende Fragen. Erzählt in der Gegenwart, ist die Mutter lebendig. So wie auch Franceschos Mama, die ebenfalls viel zu früh verstorben ist. Georgias Mutter stellt auch die Verbindung zwischen der Tochter und dem von ihr verehrten Maler her. Gemeinsam fahren die beiden Frauen nach Ferrara, um den Palazzo Schifanoia (schivare la noia, der Langeweile ausweichen) der Familie Este zu besichtigen. An den Bildern im Saal der Monate hat del Cossa mitgemalt. Die gut erhaltenen Fresken für Februar, März, April, werden ihm zugeschrieben.
Der Roman ist in zwei Teile geteilt, einer ist George gewidmet, im anderen plaudert Francescho, naiv und offenherzig. Sie ist nur wenig älter als George, begleitet sie und erzählt zugleich wie sie es geschafft hat, erwachsen zu werden. Nicht alles ist der Fantasie der Autorin entsprungen. Sie gibt auch einen amüsant zu lesenden, weil von Francescho erzählt, Einblick wie Künstler im 15. Jahrhundert lebte und arbeiteten.
„Beides sein“ heißt auch, dass es egal ist, mit welcher Geschichte man zu lesen beginnt. Smith überlässt das dem Zufall und hat die Verlage angewiesen zwei Ausgaben zu zu drucken. In einer steht das Kapitel „Georgia“ zu Beginn, in der anderen wird mit Francescho eröffnet. So wie so sind beide mit „Eins“ bezeichnet.
Meisterhaft gelingt es Ali Smith in Stil und Duktus dieses „beides sein“ fühlbar zu machen. Ohne dass ich es merke wechsle ich von London 2014 nach Ferrara um 1450. Die Mutter ist tot, dort wie da, und doch höchst lebendig. Im englischen Originaltitel, „How to be both“ wird das noch deutlicher. „Both“ bedeutet nicht nur beide sondern auch sowohl als auch.
Beides zu sein heißt auch, dass die Kunst nicht weit weg vom Leben ist und das Leben auch in die Kunst eingreift. Wenn Francescho seine/ihre lebendig scheinenden Figuren malt (del Cossas „Verkündigung“ ist übrigens in der Abteilung Alte Meister der Gemäldegalerie in Dresden zu bewundern), dann fragt er sich als Schatten von George immer wieder, was die nun sind: tot oder doch lebend. E sind zwei junge Menschen die sprechen – auch wenn George nicht selbst erzählt, hat die Autorin deren Geschichte eine eigene Sprache gegeben –, eigenwillig, poetisch, oft kurz und knapp als Rapp, dann wieder überschwänglich und exzentrisch. Dass Smith wie Heranwachsende als Protagonistinnen gewählt hat, kommt nicht von ungefähr. In der Adoleszenz ist man tatsächlich beides, zumindest Kind und Erwachsene.
Von Silvia Morawetz perfekt übersetzt, fügen sich zwei Geschichten wunderbar zu einem Roman, auch wenn George und Frrancescho einander nicht begegnen. Oder doch? George steigt in die Bilder hinein, Franceschos Geist steht ihr zur Seite.
Ali Smith bezaubert durch das originelle Thema und ebensolchen Stil. Trotz der Ernsthaftigkeit der Grundmotive benötigt Smith keinerlei Pathos. Sie erzählt charmant und humorvoll und zeigt zwei Heldinnen, die ich unbedingt umarmen muss.
Ein kurzes Beispiel über Franceschos kluge Gedanken als Schatten, der sich an sein Sterben nicht erinnern kann.. Als er sieht wie George und viele andere auf der Straße ihre Mobiltelefone vor Augen halten, denkt sie es seien kleine Ikonen, zu denen die tippenden und murmelnden Menschen beten. Sehr viel Anderes sind die flimmernden Displays ja auch nicht.
Ali Smith: Beides sein, übersetzt von Silvia Morawetz, Luchterhand 2016. 320 S. 23,70 €.