Abby Geni: „Ein Grab in den Wellen“, Roman
Die unbewohnten Farallon-Inseln, nahe San Francisco, spielen die Hauptrolle in Abby Genis wunderbarem Debüt-Roman, Thriller und Naturbuch zugleich. Eine kleine Gruppe von Biolog_innen lebt auf der Hauptinsel, beobachtet Vögel und Fische, Wale und Seelöwen. Eine junge Fotografin entert die Insel und muss sich in das Team einfügen. Nicht alle Inselgäste sind über den Zuwachs in ihrer gemeinsamen Hütte erfreut.
Die Fotografin, Miranda– ihr richtiger Name ist Melissa, doch auf der Insel wird sie Miranda genannt und wehrt sich nicht dagegen –, liebt das Abenteuer, das Außergewöhnliche und die Einsamkeit. In die schroffe, kaum bewachsene Felsenlandschaft mit einer reichen Tierwelt hat sie sich sofort verliebt. Trotz des unwirtlichen Klimas, der lauernden Gefahren, trotz des mangelnden Komforts und der eintönigen Mahlzeiten, trotz der Unfreundlichkeit der Vogelforscherin und der Bedrohung durch die den Menschen keineswegs respektierenden Tiere, die in ihrem eigenen Rhythmus die Insel bevölkern oder in Wasser, Luft und auf der Erde Station machen, ist Miranda fasziniert. Sie lernt, was Forschen bedeutet: beobachten, aber nicht eingreifen. Auch wenn ein Robbenbaby unter lautem Weinen stirbt. Bald ahnt sie, dass nicht nur die Tiere sondern auch die Menschen ihre Geheimisse haben und gute Gründe, das Festland zu meiden. Dass unter den Tieren das Gesetz von fressen und gefressen werden herrscht, ist klar. Doch allmählich bricht sich auch die Bestie im Menschen ihre Bahn.
Die junge Amerikanerin hat ein großartiges Rezept für einen interessanten, und überaus spannenden Roman gefunden: „Eine Geschichte über Ehebruch und eine zerbrechende Familie könnte stark und düster sein, doch eine Geschichte über Ehebruch und eine zerbrechende Familie plus Straußenvögel, ist eine ganz andere Sache.“ So tummeln sich die Wale und auch Haie vor der Küste, auf der Insel herrschen abertausend Mäusefamilien, zum Schutz vor den aggressiven, blutdürstenden Möwen müssen die sieben Menschen Helme tragen, und wenn sie Pech haben, haken die Vögel auch auf diese ein. Es gibt kaum einen Tag, an dem nicht eine / einer der gemeinsam in einer kleinen Hütte Hausenden verletzt ist. Mick ist immer mit dem Erste-Hilfe-Kasten zur Stelle. Und natürlich sind nicht alle miteinander befreundet und immer wieder brechen Streitereien aus.
Miranda sitzt in ihrem Zimmer und erzählt ihrer Mutter in langen Briefen, was sie denkt und erlebt hat. Die ist seit 20 Jahren tot.
Die Briefe sind an die Leserin gerichtet, die gesamte Geschichte wird von Miranda erzählt. Dass sie dabei so manches verschweigt, darf ihr nicht verübelt werden. Bei Tag strolcht sie mit der Kamera über die Insel, passt auf, dass der Boden unter ihr nicht einbricht und fotografiert alles, was da kreucht und fleucht. Sie lernt viel Neues über die Gewohnheiten und Rituale der Tiere, besonders von Mick, der gemeinsam mit Forest die Wale studiert. Die Leserin lernt Einiges über das Fotografieren. Mit dem verliebten Paar, Lucy und Andrew, kommt sie weniger zurecht, doch genau seine Leiche schwimmt eines Morgens im Wasser. Der erste Tote seit langem auf der Insel.
Die Inseln waren nicht immer unbewohnt. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts kam ein findiger Goldsucher, der registrierte, dass es in Kalifornien nicht genug Hühner gab, auf die Idee, die Eier der Lummen-Koloniel auf den Farallons zu sammeln und auf dem Festland zu verkaufen. Sein Erfolg löste einen wahren Eierrausch aus und bald überschwemmten Eiersucher die Southfarallon. Sie scheuten sich nicht, Konkurrenten umzubringen, so sie nicht selbst den vielen Gefahren der Insel erlagen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde endlich ein Leuchtturm auf Southfarallon gebaut und die Hüter des Lichts siedelten sich an. Mit den habgierigen Eiersammlern gab es Krieg, zumal die Vogelwelt schon arg dezimiert war und die großen Eier der Lummen immer rarer wurden. 1881 wurden die Eiersammler von Soldaten vertrieben, es blieben nur die Lichthüter auf der Insel. Die holten ihre Frauen und Kinder nach, errichteten eine Küstenwachstation und die Hütte, die nun die Gruppe mit Miranda bewohnt. Es ist der alte Galen, der Miranda diese Geschichte erzählt: Die Lichthüter waren unsere Vorgänger“, sagt er. „Nichteinmischung“, murmelt Miranda. „Ja, sie waren wie wir“, antwortet Galen, „sie nahmen nur, was sie brauchten. Sie haben beobachtet, ihre Aufzeichnungen gemacht und nichts verändert. Sie haben den Ort beschützt.“ So teilt Galen die Menschen überhaupt ein: in gierige Eiersammler und Lichthüter. „Nicht Leuchtturmwächter, die befehlen“, freut sich Miranda.
„The Lightkeepers / Die Lichthüter“ ist auch der poetische und überaus passende originale Titel des Romans von Abby Gene, die keineswegs selbst Biologin ist, sich aber schon als Kind für die Tierwelt interessiert hat. Ihr Roman evoziert zwiespältige Gefühle: Die Ausweglosigkeit auf der Insel macht Angst, zugleich lassen Himmel und Meer Ungebundenheit und Zwanglosigkeit spüren. Im letzten Teil wird die Insel immer unheimlicher, die Gewalt unberechenbarer, die Natur ist die eigentliche Herrscherin der Insel. Wenn Gene diese unter den Tieren schildert, dann ist das Realität und Metapher zugleich.
Ein packender, faszinierender Roman in bester Übersetzung. Der Verlag druckt zwar hymnische Kritiken aus dem Ursprungsland ab, hat jedoch dem Erfolg nicht getraut. Der schöne Titel ist durch einen Allerwelts-Thrillertitel ersetzt und als schnell zerfallendes Taschenbuch aufgelegt. Das könnte auch etwas Gutes haben: Der Preis verlockt zum Kauf. Und den wird kaum jemand bereuen.
Abby Gene: „Ein Grab in den Wellen“, Original „The Lightkeepers“, übersetzt von Urban Hofstetter. Pendo, 2017. 368 S. € 15. Auch als E-Book erhältlich.