Marco Balzano: „Das Leben wartet nicht“, Roman
Mit neun Jahren wird Ninetto Giacalcone aus der kleinen szilianischen Stadt San Cono nach Mailand geschickt, um Geld zu verdienen. In San Cono wandern alle Jungen aus, die Stadt ist zu arm, Arbeit gibt es kaum. Nineto ist spindeldürr, deshalb wird er in der Schule „Pelleossa“ / "Haut und Knochen" gerufen. Der Spitzname bleibt ihm.
Der Kleine hat den Kopf voller Wörter, weiß Gedicht zu rezitieren, möchte gern Schriftsteller werden, doch vorerst muss er mit dem Fahrrad Wäsche ausliefern. er ist froh, einen Job in der großen Stadt gefunden zu haben, auch wenn der Lohn mager ist. Geschickt findet er sich bald in Mailand zurecht, erträgt die Spötteleien die die „Napuli“ (alle Männer aus dem Süden) zu ertragen haben. Als er 14 wird, ist er erwachsen genug, um eine legale Arbeit in der Fabrik anzunehmen. Bald steht er am Fließband, arbeitet sich durch Fleiß und Verantwortungsbewusstsein zum Vorarbeiter hoch. In die Gewerkschaft tritt er nicht ein, das scheint ihm zu gefährlich. Mit 15 heiratet er ein ebenso altes Mädchen und bald vervollständigt eine Tochter die Familie. Die Arbeit ödet ihn an, die Tage rinnen dahin, en zweites Kind ist dem Paar nicht gegönnt, bald wird Tochter Elisabetta heiraten. Der Schwiegersohn gefällt ihm nicht und als er ihn eines Tages mit der Tochter beim Schmusen erwischt, schlägt er ihn krankenhausreif. Das bringt in für Jahre ins Gefängnis.
Nach der Entlassung ist seine Ehe voller Risse, das Verhältnis zur Tochter und der inzwischen geborenen Enkelin ruiniert und mit seiner Frau, Maddalena, weiß er nichts mehr zu reden. Arbeit gibt es auch keine mehr. Da beginnt Ninetto / Pelleossa sich selbst seine Geschichte zu erzählen. Eigentlich will er sie für seine Enkeltochter aufschreiben, schließlich hat ihm der verehrte Lehrer in der Grundschule, die er gar nicht abschließen durfte, ein „Tagebuch“ geschenkt. Doch es bleibt leer, die Wörter wollen nicht aufs Papier.
Einmal, nur ein einziges Mal, gelingt es ihm mit der Enkelin spazieren zu gehen und da geht er mit ihr in die Slums von Mailand, wo er gewohnt und gearbeitet hat. Begeistert erzählt Lisa den Eltern davon. Von den „schmutzigen Wohnungen und den bösen Männern darin“ doch sie hatte keine Angst gehabt, weil ihr Opa sie „ganz fest an der Hand gehalten“ hat. Da schmilzt die Bitterkeit in Ninettos Herz und er fühlt sich wieder lebendig. Die ganze Nacht bleibt er wach, um am Fenster, nach einer Sternschnuppe zu suchen. „Doch ich konnte keine finden.“ Ein versöhnliches Ende eines nur oberflächlich traurigen Buches,
In einfachen Worten erzählt Ninetto /Pelleossa seine Geschichte selbst, und erinnert sich, wie er, wie viele andere Kinder, die in den neunzigfünfziger Jahren aus dem armen Süden in den reichen Norden gewandert sind, sich durchgeschlagen hat. Immigranten in der eigenen Heimat. Reichtum haben sie alle keinen gefunden, aber wenigstens Arbeit, auch wenn diese schwer und meistens eintönig war. Träumend wandert der Erzähler Ninetto von der Gegenwart nach dem Gefängnisaufenthalt in die Vergangenheit und wieder zurück in die Jetztzeit, von der es kaum noch Wichtiges zu berichten gibt.
Marco Balzano, selbst aus süditalienischer Familie, die ihr Glück im Norden gesucht hat, erzählt in unbeholfener, rauen und doch überaus poetischen Sprache, mit Dialektwörtern durchsetzt, sodass ich den kleinen und noch mehr den alternden Ninetto vor mir sehe, neben ihm auf der Bank im Beserlpark sitze und aufmerksam der Erzählung seines Lebens zuhöre.
Das Erzählen in seiner eigenen Sprache gibt Ninetto Kraft und vielleicht sogar etwas Freude am Leben und übt auf die Leserin einen Sog aus, dem sie sich nicht entziehen kann.
Eine völlig neue Musik erklingt, für der 1978 geborene Autor zurecht eine Reihe von renommierten Preisen erhalten hat.
Balzano, mit abgeschlossenem Linguistikstudium, debütierte 2007 mit der Gedichtsammlung „Particolari in controsenso“ („Einzelheiten im Widerspruch“). Veröffentlichte in Zeitungen und Magazinen und hat 2010 seinen ersten Roman („Il figlio del figlio / Der Sohn des Sohnes“) geschrieben. Mit „Pronto er tutte le partenze“ (Bereit für alle Abfahrten) hat er den Premio Flaiano gewonnen. Der vorliegende Roman mit dem italienischen Titel „L’ultimo arrivato“ (Die letzte Ankunft) ist dann 2014 erschienen und von Maja Pflug ausgezeichnet und einfühlsam übersetzt.
Marco Balzano: „Das Leben wartet nicht“, übersetzt von Maja Pflug, Diogenes 2017. 300 S. € 22,70.