Ulrike Edschmid: Eine erste Begegnung
Schande! Die Lektüre des jüngsten literarischen Werks von Ulrike Edschmid, der Roman Die letzte Patientin, ist meine erste Begegnung mit der bekannten und auch preisgekrönten Autorin. Der nur 110 Seiten füllende Roman ist eine Trouvaille, ein Glücksfund für die bis jetzt unabsichtlich ignorante Leserin.
Ulrike Edschmid ist 1940 in Berlin geboren und in der Rhön aufgewachsen. Den Vater hat sie wohl nie kennengelernt, er ist im Krieg gefallen. Nach dem Literatur-Studium an der Freien Universität in Berlin und danach an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb), hat sie für kurze Zeit sie als Lehrerin gearbeitet. Sie hat den Schauspieler und Regisseur Enzio Edschmid verheiratet, der sie bald verlassen hat. Von ihm hat sie den Namen und ihren Sohn Sebastian behalten. Der Enkel des Schriftstellers Kasimir Edschmid, geboren 1965, hat wie seine Mutter an der dffb studiert und arbeitet als Kameramann.
Edschmids weiteres Leben ist in ihrem Werk, das deutlich autobiografisch grundiert ist, nachzulesen. Mit ihrem Roman Das Verschwinden des Philipp S., – 2014 im Suhrkamp Verlag erschienen und 2022 als wohlfeiles Taschenbuch neu aufgelegt – hat sie nicht nur Preise gewonnen, sondern auch eine breite deutsche Öffentlichkeit erreicht. Sie analysiert in dem dünnen Roman Leben und Tod des Schweizer Filmemachers und Mitglied der Terrororganisation „Bewegung 2. Juni“ Werner Sauber (1947–1975). Ulrike Edschmid hat eine Zeitlang mit Philip Werner Sauber und ihrem Sohn, Sebastian, in einer Berliner Wohngemeinschaft gelebt.
An diese Wohngemeinschaft erinnert die Autorin flüchtig auch in ihrem neuen Roman, Die letzte Patientin, der von einer jungen Frau erzählt, die nach zahlreichen unerfüllten Liebesabenteuer und Reisen durch die halbe Welt, in Barcelona als Therapeutin arbeiten will. Sie hat erfahren, dass sie Krebs hat und nicht mehr lange leben wird.
Erzählt wird die Geschichte von einer Freundin, mit der die Luxemburgerin in den 1970er Jahren in einer Wohngemeinschaft in Frankfurt gelebt hat. Die Namenlose kam nach einer geplatzten Liebe und ist drei Jahre später ihrer neuen Liebe, einem spanischen Anarchisten, nachgereist. Auch diese Liebe hält nicht lange, Xavier taucht in einer Tapas-Bar auf. Lange wird auch er nicht bei ihr bleiben, und sie überquert den Ozean.
Die Freundinnen bleiben in Kontakt, d die Daheimgebliebene wird durch Briefe und Telefonate vom Stand der Lieben und später der Gesundheit auf dem Laufenden gehalten. Einmal im Jahr kommt sie zu Besuch nach Barcelona. Das letzte Mal, nach dem Tod der Freundin. Die Erzählerin weiß, dass die Freundin durch die Auseinandersetzung mit einem Gegenüber, das erhalten hat, was sie ein Leben lang gesucht hat: Zuneigung, Liebe und Gemeinschaft. In der anfangs scheinbar erfolglosen Therapie für eine junge Frau, die jahrelang nicht spricht, die Stunden stumm absitzt, erlebt die Protagonistin gegen Ende ihres Lebens, eine echte Begegnung. Sie erlebt, dass sie helfen kann, ein Gegenüber versteht und von diesem verstanden wird und auch selbst Hilfe erhält.
Ursula Edschmid drückt auf keine der üblichen Gefühlstuben, erzählt schmucklos, kommentarlos und knapp, als würde sie das Leben ihrer einstigen Mitbewohnerin protokollieren. Die Emotionen entwickelt die Leserin selbst, sie sind im Roman nicht zu finden, doch sie werden geweckt. Die Geschichte der letzten Patientin, der so lang sprachlosen Frau N., ist kurz, doch intensiv. Edschmid erzählt sie behutsam und die schockierenden Details, die diese gequälte Person in die Stummheit getrieben haben, wirken lange nach. Die Leserin erfährt sie aus zweiter Hand, von der Freundin der Therapeutin, die gerade soviel preisgibt, dass verstanden wird, was die Patientin durchlebt hat. Als die Geduld der Therapeutin nach sieben Jahren Früchte bringt, die Klientin sich endlich öffnen kann, ist sie auch fähig, die Sterbende mit all der Liebe zu umhüllen, die diese ein Leben lang vermisst hat. Die namenlose Frau kann ihre Reise in Frieden beenden, zwei Tage vor den Weihnachtsfeiertagen.
Der Roman wird zu einer Reise durch raue und bunte Landschaften, an deren Ende sich eine Tür in das Innerste der Menschen öffnet. Fünf Schwarten à 500 Seiten können nicht so ein aufwühlendes Geschenk sein wie diese 100 Seiten von Ulrike Edschmid. Ich bin glücklich, die Autorin endlich entdeckt zu haben.
Ulrike Edschmid: Die letzte Patientin, Roman, 111 Seiten, Suhrkamp 2024. € 23,70.