Joachim P. Schmidt: Moosflüstern in Island
Der Schweizer Autor Joachim B. Schmidt hält es mit den Pechvögeln. Sympathischen Zeitgenossen, die Not und Schmerz erleben, aber niemals aufgeben. Mitunter auch, weil sie es nicht verstehen, was da mit ihnen passiert.
In seinem neuen Roman, Moosflüstern, ist es Heinrich Lieber, ein akkurater Schweizer Bauingenieur, der mit 40 Jahren aus der Bahn geworfen wird, beruflich und familiär. Bisher war seine Welt in Ordnung. Das Haus, die drei Kinder, die Ehefrau und die Anlage der Modelleisenbahn im Keller, seine Arbeit im kleinen Baubüro, alles wie es sein soll. Doch dann sterben zwei Bauarbeiter, weil eine von ihm konstruierte Lagerhalle eingestürzt ist. Er ist sich keines Fehlers bewusst, wie korrekt und genau er arbeitet, wissen alle. Heinrich studiert den Plan: Alles stimmt. Er fühlt sich schuldlos, bis ihm einfällt, dass er spätabends eine Verbesserung zwar eingezeichnet, doch am nächsten Morgen nicht weitergeleitet hat. Er stürzt sich nicht von der Brücke, dass ihn die von Vater und Mutter überbrachte Nachricht, nicht so sehr erschüttert wie erwartet, ist verständlich. Seine Nachlässigkeit hat zwei Menschenleben gekostet, was macht es da, dass seine Mutter gar nicht seine Mutter ist und seine wahre Mutter erst vor wenigen Tagen im fernen Reykjavik gestorben ist.
Heinrich war erst wenige Monate alt, als seine leibliche Mutter, Anna, die kleine Familie verlassen hat. Der Vater ist mit dem Säugling aus Deutschland in die Schweiz gezogen und hat wieder geheiratet. 40 Jahre lang hielt Heinrich Lieber Vreni Lieber-Danuser für seine richtige Mutter. Nun muss er damit zurechtkommen, dass ihn die Frau, die ihn zur Welt gebracht hat, im Stich gelassen hat. Wie gesagt, was ihn wirklich bedrückt, sind die beiden Toten unter den Trümmern der Lagerhalle. Sein Chef empfiehlt ihm, ohne zu wissen, wie Heinrich an dem Unfall beteiligt ist, eine Auszeit zu nehmen. Für Heinrich der Anlass, das Land zu verlassen. Er macht sich auf, die Spuren seiner nie gekannten leiblichen Mutter zu finden. Wieso ist sie einfach abgedampft, wie konnte sie ihr Baby im Stich lassen und was ist in Island geschehen? Heinrich will es wissen und macht sich, nach einem Umweg über Paris, wo Annas ebenfalls plötzlich aufgetauchte Schwester, Charlotte, lebt, auf nach Island.
Was wirklich passiert ist, erfährt die Leserin aus der mageren Erzählungen Charlottes und aus den ausführlichen Tagebüchern Annas. Das Leben Annas in Island hat der Autor imaginiert, doch die Erklärung, wie sie überhaupt dorthin kam, beruht auf tatsächlichen Ereignissen. Nach den Schrecken des Krieges und des Wiederaufbaus, nach der anstrengenden Arbeit als Trümmerfrau, der Heimkehr des verstörten Ehemanns, den sie kaum gekannt hat, aus der Gefangenschaft, nach allem, was die Frauen zu Hause in Zeiten des Krieges erleben mussten, sucht Anna einen Ausweg . Die Soldaten wurden geehrt, die Frauen zurück an den Herd geschickt, ohne Lorbeerkranz. Nach der Geburt des Sohnes, den sie sich nicht gewünscht hat, wird Anna depressiv. Der Kriegsheimkehrer verfrachtet sie in die Nervenklinik und macht sich nicht viele Gedanken, als sie einfach verschwindet. Er hat keine Ahnung, dass sie sich nach Island abgesetzt hat. Robert Lieber verlässt mit seinem Baby-Sohn Deutschland und beginnt in der Schweiz ein neues Leben.
Auch Anna beginnt ein neues Leben, will das alte, qualvolle vergessen. Auf einem einsamen Bauernhof entfernt von der Hauptstadt ihrer neuen Heimat Island, beißt sie sich durch, bis das Leben Gewohnheit wird. Sie heiratet und bekommt drei Töchter. Manchmal denkt sie an den zurückgelassen Erstgeborenen. Doch sie schafft es nie, ihm zu schreiben. Natürlich ist Anna eine Romanfigur, doch ihre Reise nach Island hat sie nicht allein gemacht. Anna ist eine von den vielen Frauen Deutschlands, die in der Nachkriegszeit dem Ruf der Isländer folgten, um gegen Brot und Quartier bei der Arbeit zu helfen. Auch das Schiff, mit dem Anna und die mitreisenden jungen Frauen vom Lübeck aus nach Island übergesetzt sind ist belegt. Die Esja war das erste Schiff, das deutsche Frauen und Mädchen nach Island gebracht hat, lange Zeit wurden die rund 500 Auswanderinnen Esja-Frauen benannt. Ihren Namen hat die Esja vom etwa 900 m hohen Hausberg der Reykvíkingar.
Autor Joachim B. Schmidt versteht es wunderbar, Mutter und Sohn zusammenzubringen und auseinanderzuhalten. Beide trotzen ihrem Schicksal und feiern das Leben, trotz aller ihnen verpassten Schläge. Heinrich allerdings kann nicht mehr zu seiner Familie in der Schweiz zurückkehren, er will bei der Mutter bleiben. Nahtlos schafft der Autor auch die Übergänge von Heinrichs aktueller Reise, 1988, und Annas aus der Not gewachsener Flucht. Deutlich spürt die Leserin, dass der Sohn der Mutter immer näherkommt. Ein neues Leben jedoch gibt es nicht für Heinrich, der durch eine Nachlässigkeit zwei Leben gelöscht hat. Die Reise, die Begegnung mit den Halbschwestern hat ihn müde gemacht. Er gibt auf.
Poetisch in den Naturschilderungen, einfühlsam in der Skizzierung der Charaktere und fließend das Interesse wecken, lesen sich die sachlich basierten Absätze. Der Geschichte von Anna, der Mutter, die ihren Sohn vergessen musste, um zu überleben und dieses Sohnes, den erst der Tod mit ihr vereint, mangelt es nicht an Humor und Spannung. Joachim B. Schmidt ist eine wahre Bereicherung der Schweizer Literaturszene.
Joachim B. Schmidt: Moosflüstern, Diogenes, 2024. 288 Seiten. € 14.40. E-Book € 11,99