Zum Hauptinhalt springen

Von Pferden und Menschen

Stefanie vor Schulte erzählt fantastische Geschichten.

Mit ihrem ersten veröffentlichten Roman, Junge mit schwarzem Hahn hat die deutsche Schriftstellerin Stefanie vor Schulte einen Bestseller gelandet. Nummer zwei, Schlangen im Garten, war nicht so erfolgreich. Nun ist, ebenfalls wie die genannten bei Diogenes, Das dünne Pferd als Nummer drei erschienen, surreal, fantastisch, aufregend, magisch und manchmal verwirrend.  

Unterhalb eines Felsens am Strand hungert ein schon recht dünnes Pferd.  © andimanasquanbeachhouse.comStefanie vor Schulte, Jahrgang 1974, ist eine gute Beobachterin, malt einprägsame Bilder und scheibt in klaren, einfachen Sätzen. Ihre Geschichten wirken wie Märchen aus ferner Vergangenheit oder ganz naher Zukunft. Die Leserin kann sich aussuchen, in welcher Zeit, an welchem Ort sie spielen.
Diesmal heißt der fantasierte Ort Einstadt, dort herrscht purer Machismo und Rücksichtslosigkeit. Das Land gehört Imre Brandt, er hat das Sagen, umringt von seinen Cowboys – „Schusswaffen stecken in ihren Gürteln und an den Fingerknöcheln klebt Blut“ – dämmert er hinter einem hohen Zaun dem Tod entgegen, seinem eigenen und dem der gesamten verödeten Stadt. So alt wie diese Badstube auf dem Kupferstich, den Virgil Solis um 1550 von einem Badehaus angefertigt hat, ist die neue Bleibe der Kinder am Strand von Einstadt nicht. © gemeinfreie / wikipedia
Einstadt liegt oberhalb des Meeres, an dessen Strand ein verfallenes Badehotel steht. Dort nisten sich zwei Frauen mit einer Schar kranker Kinder ein. Die Eltern haben die Kinder abgegeben, die Einrichtung wird geschlossen, die beiden Pflegerinnen, Aria und Marion, kapern auf einem Parkplatz einen der umherstehenden Busse und fahren mit 15 Kindern „in eine Zukunft, die keine mehr ist.“ Am Strand von Einstadt machen sie halt, besetzen das Badehotel. Die Kinder sind krank, werden nicht mehr lange leben, aber einstweilen sind sie glücklich. Gar nicht glücklich sind die Einstädter, falls diese überhaupt irgendetwas fühlen, Glück jedenfalls sich nicht, niemals. Die Männer sind sichtbar, die Frauen sind im Haus und stumm. Allerdings im Wirtshaus herrscht Jenny, die mit ihrem Megafon die dauerbetrunkenen Mannsbilder dirigiert. Mit Brandts Cowboys gibt es Freundschaft, falls irgendjemand in Einstadt überhaupt weiß, was Freundschaft ist. Doch Jenny hat das Bier, wer ihr nicht gehorcht, bekommt keines, das gilt auch für die sechs staubigen Cowboys auf ihren Pferden. Und auch für Brandt, denn sie ist vom gleichen Stamm wie er.
Aria lässt sich von Ablehnung und Hass nicht einschüchtern, und bald hat sie eine neue Aufgabe. Die Kinder haben am Strand ein Pferd entdeckt. Es sieht unterhalb eines Felsens im Sand und kann von alleine den Flecken nicht verlassen. Aria will das Pferd, das im Sand nichts zu fressen findet, retten. Die Pferdeherde prescht durch die Gegend, weil der Dorfkaiser sie aus dem Stall gejagt hat. Das dünne Pferd soll seinen Artgenossen folgen. © pinterest.com Kein Mensch weiß, wem dieses Pferd gehört und wie es an den unwegsamen Strandabschnitt gekommen ist. Aria wird von der Idee, das Pferd zu retten, besessen, hat nichts anderes mehr im Sinn und rüttelt damit auch die Frauen von Einstadt auf. Im „Mäusekasten“, so wird das alte Badehotel, in dem jetzt die Kinder wohnen, oben in Einstadt genannt, ist inzwischen eine dritte Frau eingetroffen, Hayden, tatkräftig und ein wenig verrückt, die Aria bei ihrem Vorhaben, das dünne Pferd zu retten, unterstützt.
Das Pferd wird von seinen Artgenossen gerettet, doch Einstadt und seine Bewohner sind dem Untergang geweiht. Davor muss ein Serienkiller ausgeschaltet und auch Arias Vorgeschichte geklärt werden, damit sie endlich ihre Portion Glück erhalten darf und erkennt, warum dieses Pferd „dort unten war“. Die Bodyguards von Imre Brandt, der in Einstadt das Sagen hat, halten sich  selbst für Cowboys  © Dimitar Hristov / pixels.comStefanie vor Schulte hat keine Scheu für Kitsch und Trivialität, auch wenn sie eine ziemlich grausliche Geschichte erzählt, in der vor allem die Männer nicht gut wegkommen. Hochgestochen kann von einer Dystopie gesprochen werden, doch sie entlässt ihre Leserinnen nicht ohne Trost. Die Welt, in der das dünne Pferd seine Aufgabe erfüllt hat, geht unter, versinkt im Schlamm des Meeres. Aria, Hayden und die Kinder steigen in den Bus, während Geisterhände die Glocken von Einstadt läuten, und fahren in eine neue Zukunft.

Denn Aria ist ein Cowboy der Gegenwart. Ein Werkzeug, das die Schrauben anzieht, um das Fun­dament für ein paar Stunden zu sichern. […] Kann sein, sie werden krank und sterben. Ganz sicher werden sie sterben.
Aber zuvor werden sie ihre Straße finden.

Schuld und Verantwortung, Empathie und Gefühlskälte, Gehässigkeit und Egoismus, aber auch Mut, Vertrauen und Hoffnung – vor Schulte spricht viele Themen an und verwendet mitunter auch einen Holzhammer, um zu sagen, worum es geht. Covermotiv der Buchausgabe nach einem Foto von Guy Bourdin. © The Guy Bourdin Estate 2024, courtesy of Louise Alexander Gallery / Diogenes VerlagAm Ende ist man sicher, Einstadt liegt hier und jetzt vor aller Augen. Doch größere Freude an der Erzählung von den Guten und den Schlechten, die allesamt in der Hölle leben, hat die Leserin, wenn sie jegliche Moral beiseitelässt und sich einfach an der aus jeglicher Zeit gefallenen Wildwestgeschichte erfreut. Vor Schulte malt mit grellen Farben, tröstet jedoch, indem die Widerlinge bestraft werden und die Braven überleben. Zumindest bis zum Ende der Geschichte.

Stefanie vor Schulte: Das dünne Pferd, 256 Seiten, Diogenes, 2024. € 25,70. E-Book € 21,99