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Stefanie vor Schulte: „Junge mit schwarzem Hahn“

Autorin Stefanie vor Schulte. © Gene Glover / Diogenes Verlag

Zufälliges Zusammentreffen bedeutet nichts anderes als zufälliges Zusammentreffen. Koinzidenz eben, nicht Zusammenhang, keine Ursache mit Wirkung. Dass mir gerade jetzt, nach der Lektüre des „Tell“ von Joachim B. Schmidt, dieses Buch in die Hände gesprungen ist, ist also lediglich einem zufälligen Blick auf den Stapel der Ungelesenen zu verdanken. Dennoch bleibt die Erkenntnis, dass „Tell“ und „Junge mit schwarzem Hahn“ von Stefanie vor Schulte ungefähr in derselben Epoche spielen, als einige wenige geherrscht haben und viele hungrig und schmerzerfüllt auf dem trockenen Boden gekrochen sind. Auch der schnörkellose, harte, manchmal sogar kurzatmige Stil ähneln einander.

Die meist schwarzgefiederten Hühner der Rasse Augsburger sind besonders. Gerne werden sie in Ausstellungen gezeigt. Den schönen Augsburger Hahn hat Robert Hock (©) fotografiert und in focommunity.de ausgestellt. Ob er sprechen kann, ist nicht überliefert. Stefanie vor Schultes packendes Romandebüt ist gut ein halbes Jahr vor Tell erschienen. Es ist tatsächlich Zufall, dass mir  vor Schultes Erzählung vom "Jungen mit dem schwarzen Hahn" aufgefallen ist, akkurat während ich Schmidts „Tell“ gelesen habe. Inhaltlich haben die beiden bei Diogenes erschienen Romane nichts miteinander zu tun, außer dass von der Willkürherrschaft empathieloser, tyrannischer Unmenschen erzählt wird. „Tell“ beruht auf sagenhaften Elementen und historischen Ereignissen, „Junge mit schwarzem Hahn“ ist ein Märchen für Erwachsene. Märchenhaft ist wohl nicht, dass eine alte Fürstin im Jugendwahn ein ganzes Dorf kujoniert, doch dass der schwarze Hahn sprechen kann, erinnert an die Brüder Grimm und ihre Sammlung der "Kinder- und Hausmärchen" (2 Bände, 1812, 1815) oder den französischen Märchensmammler Charles Perrault († 1703). Dorfleben im Mittelalter. Spielszene aus dem Film "Ein Junge füttert im Mittelalter Gänse"  © SWR Der Hahn ist der beste Freund eines anfangs elfjährigen Waisenkindes, eine Art Gewissen und Vaterfigur. Der Junge muss ihn verstecken, denn das abergläubische Volk meint am schwarzen Federkleid den Teufel zu erkennen. Martin, wie der Bub gerufen wird, ist reinen Herzens und geht mit blanken Augen durch die Welt. Doch Parzival ist er sicher nicht, er ist klug und musste miterleben, wie sein Vater, durch Misshandlung und Folter verrückt geworden, mit der Axt seine Familie ausrottet. Martin ausgenommen.
Reste mittelalterlicher Burgen, in denen die "Besitzer" des Dorfes gelebt haben, gibt es in ganz Europa zu finden. Hier ist die Burg Vrana in Kroatien abgebildet. © koratien-nachrichten.de Er hat auch eine Aufgabe, das Dorf von den schwarzen Männern zu befreien, die junge Mädchen rauben. Diese sollen der Fürstin die Jugend wiedergeben. Nach einem Jahr werden sie nicht mehr gebraucht und einfach weggeworfen. Leichte Kost ist dieser eindringliche Roman nicht. Die Autorin hat ihren höchst eigenen Stil, als wäre die Geschichte zu jener Zeit geschrieben, in der sie spielt. Die Figuren sind lebendig und glaubwürdig, es fehlt auch nicht an Humor und dörflichem Kolorit, sodass man selbst schon nach wenigen Seiten mitten im Geschehen, das sich allmählich zu einem Kriminalmärchen entwickelt, steckt. Die schwarzen Reiter stehlen junge Mädchen aus dem Dorf. Martin will sie unschädlich machen. © Chris Rahn: "Black Rider", Öl auf Masonit / shadowcoreillustration.blogspot.com Der Kampf gegen die Tyrannei und das Verbrechen dauert offenbar Jahre, denn am Ende ist der tapfere Martin, der sein Ziel, das aus dem Dorf geraubte Mädchen zu finden und zu befreien, niemals aus den Augen verliert und sich durch nichts und niemanden davon abbringen lässt, zum Jüngling herangereift, der eine Braut freien darf. Nicht das gefundene und befreite Mädchen, das der Mutter zurückgebracht wird, so märchenhaft platt ist dieser Roman nicht, sondern die Franzi, die Kellnerin im Dorfkrug, die er schon als kleiner Bub geliebt hat. Auch die Fürstin des Romans kennt Foltermoden. Bild: llustration aus der Luzerner Chronik von Diebold Schilling, 1513 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern)/ © gemeinfreiDas Paradies wird den beiden, dem Maler und auch dem Hahn auch dann nicht versprochen, obwohl Frühling ist und die Wiesen grün sind. Doch sie haben einander, haben Freunde und können einander trösten, wenn sie mit schmerzverzerrten Gesichtern aufwachen. Der letzte Satz ist zweideutig, beruhigend und beängstigend zugleich: „Und keiner lässt den anderen los.“ Das ist die Paradiesvorstellung, doch das Paradies ist ein GefängnisBuchcover © Diogenes Verlag , auch wenn darin Wolf und Schaf einander lieben und die reifen Früchte von den Bäumen fallen. Ein Märchen ist ein Märchen, da darf auch von der ewigen Liebe geträumt werden.
Stefanie vor Schultes Ausbildung zur Bühnen- und Kostümbildnerin erklärt die plastischen Bilder, die sie auch beim Schreiben findet und auch die Farbigkeit des kompakten Romans, der auch vom Erwachsenwerden des Jungen erzählt, der einige Prüfungen zu überstehen hat. Die Autorin versteht es, Märchen- und Sagenelemente mit dem heutigen realen Leben zu verweben. Sie macht iihre Protagonisten, vor allem Martin, so vertraut mit den Leserinnen, dass der Abschied schwer fällt.

Stefanie vor Schulte: „Junge mit schwarzem Hahn“, Diogenes 2021. 224 Seiten. € 22,70.