Matara – Kinder spielen Krieg
Auch wenn alle handelnden Personen Kinder sind, ist Matara, der Roman von Matias Riikonen, kein Kinderbuch. Im Gegenteil, der Roman ist auch für Erwachsene schwer zu ertragen, denn Riikonen schildert ein Rollenspiel, das sich halbwüchsige Buben in den Ferien ausgedacht haben, nicht als fantastischen Zeitvertreib, sondern als grausame Realität.
Sind das wirklich Kinder, die hier in den Wäldern am Rand Helsinkis ihren eigenen Staat, Matara genannt, gegründet haben? Wenn die Soldaten gegen ihre Feinde in den Krieg ziehen, sie gefangen nehmen, versklaven und auch töten, vergisst man schnell, dass nicht von der täglichen Realität berichtet wird, sondern von einem kindlichen Spiel. Doch der Bericht handelt nicht von einem Kinderspiel, in dem getan wird als ob, sondern von einem realen Krieg mit Folter und Tod für die Feinde.
Der große Bruder und der kleine Bruder (zugleich der Erzähler) sind die beiden Hauptpersonen der düsteren Geschichte. Der große Bruder ist Späher und Spion, der kleine wird von ihm ausgebildet. Die Anfangskapitel lesen sich noch recht angenehm, Riikonen weckt mit einprägsamen Bildern und lebhaftem Stil alle Sinne der Leserin. Man hört die Äste knacken und den keuchenden Atem des kleinen Bruders, der sich so anstrengt, um ebenso große Schritte zu machen wie der große. Man zuckt zusammen, wenn er stolpert und muss mit dem kleinen Bruder Wasser trinken, weil man auch unter der Leselampe Durst bekommen hat. Der Staat Matara hat das römische Reich als Vorbild genommen. Die Hierarchie von den Priestern, Patriziern und Soldaten über die Plebejer bis zu den Sklaven wird eingehalten, die Grenzen müssen bewacht werden, und wo es Grenzen gibt, gibt es auch Feinde. Spätestens als der große Bruder eine bisher unbekannte andere „Nation“ entdeckt und die Togaträger beschließen, diese anzugreifen, wird die Lektüre unangenehm und beklemmend.
Im Interview mit Helsinki Literary Agency sagt der auf dem Autorenfoto so sanft und harmlos aussehende Matias Riikonen, dass er sich an seine eigene Kindheit erinnert und sich gedrängt gefühlt hat, davon zu erzählen.
Ich erlebte eine außergewöhnliche Kindheit in einem der buschigen Außenbezirke Helsinkis, einer Art Hinterland. In den nahe gelegenen Wäldern wurden ganze Hüttenstädte und Staaten errichtet – es ist schwer, das Ausmaß ihrer politischen und wirtschaftlichen Systeme auch nur zu erahnen. Vor allem in der heutigen Zeit, in der große Kinderbanden und ihre Spiele immer seltener werden.
Riikonen wünscht sich, dass spielende Kinder ernst genommen werden. Doch denkende Eltern wissen, dass das Kinderspiel kein Zeitvertreib ist, sondern Erfahrung und Lernen. Im Spiel üben die Kinder, sich in der Welt zurechtzufinden und lernen, wie die Gesellschaft funktioniert. Riikonen wünscht sich, dass spielende Kinder ernst genommen werden. Doch denkenden Eltern ist klar, dass das Kinderspiel kein Zeitvertreib ist, sondern Erfahrung und Lernen. Im Spiel üben die Kinder, sich in der Welt zurechtzufinden und lernen, wie die Gesellschaft funktioniert. Deshalb erzählt Riikonen von Teenagern, die sich benehmen wie Männer, weil sie die Männerwelt nachahmen. Sie fühlen nicht mit den anderen, die sie zu Feinden ernannt haben, weil sie ihr Territorium schützen müssen. Sie haben kein Mitleid mit denen, denen sie Schmerz zufügen und verachten alle die, die in der Hierarchie unter ihnen stehen und gehorchen müssen. Besonders abstoßend ist, dass in diesem Spiel auch der Betrug, die Korruption und die Intrige inkludiert sind. Wieso wissen schon diese Möchtegerns, die sich ihre Bärte mit Kohle ins Gesicht malen, davon? Frauen (Mädchen) kommen übrigens keine vor in Matara. Doch richtige Männer müssen Frauen haben. In Matara sind es Fetzenpuppen. Die Jubelrufe aus Finnland für den Autor und seinen vierten Roman, der bereits „seinen Platz als Schlüsselwerk der finnischen Literatur eingenommen hat“ (Helsingin Sanomat), kann ich nicht nachvollziehen. Der grausame Realität, in die der Autor die Leserin hineinzieht, fehlt es an Distanz und auch an Humor. Auch ich habe mit den Nachbarsbuben „Räuber und Gendarm“ gespielt und mit hölzernen Gewehren gefuchtelt, doch es blieb ein Spiel, in dem bei allem Ernst niemandem weh getan worden ist. Riikonen aber begibt sich mitten in einen offenbar realen Krieg, scheut sich nicht, Rachedurst und Freude an den Qualen des Feindes zu schildern. Will er diese Welt der Mäner tatsächlich verteidigen?
Wie gesagt, Matara ist sein vierter Roman, doch der erste der ins Deutsche übersetzt worden ist. Schon sein 2012 veröffentlichter Debütroman, Nelisiipinen lokki / Die vierflügelige Möwe, wurde als Entdeckung gefeiert und für den Helsingin-Sanomat-Literaturpreis nominiert; Matara ist nach dem Erscheinen 2021mit dem Tulenkantaja-Preis ausgezeichnet und auch für die höchste finnische Auszeichnung, den Finlandia Preis nominiert worden.
Matias Riikonen hat, das ist unschwer zu erkennen, auch wenn einstweilen erst ein Werk ins Deutsche übersetzt ist, eine besondere Art Geschichten zu erzählen. Sein Stil ist speziell und verdient die Preis sicherlich. Wie viele seiner finnischen Kollegen hat er eine besonders innige und liebevolle Verbindung mit der Natur und kann sie so wunderbar beschreiben. Während das weiche Moos zu spüren ist, steigt der Geruch des Harzes der Bäume in die Nase, die Ohren klingen vom Plätschern des Baches und das Herz wird weich, weil nicht nur die Gefangenen gequält werden.
Riikonen komponiert seine Sätze, manche Absätze laden zum Singen ein. Es gibt Reprisen und Refrains und ein wunderschönes Finale. Schön wäre es deshalb, wenn der Karl Rauch Verlag mindestens noch ein Werk Riikonens übersetzen lässt. Dann könnte man vielleicht an einem weniger unangenehmen Inhalt überprüfen, ob es genügt, ein Meister der Form zu sein.
Matias Riikonen: Matara, aus dem Finnischen von Maximilian Murmann. 320 Seiten, Karl Rauch Verlag, 2024. € 25,70.