Kunst, Liebe, Leben – kein Roman
Die britische Schriftstellerin Rachel Cusk ist 1967 in Saskatoon, Kanada, geboren, in England aufgewachsen und lebt aktuell in Paris. Mit 26 veröffentlichte sie ihren erste Roman Saving Agnes, der sofort mit einem Preis ausgezeichnet worden ist. Im deutschen Sprachraum wurde Cusk erst spät entdeckt. 2014 hat die erfahrene Übersetzerin Eva Bonné für den Verlag Suhrkamp vier Romane ins Deutsche übertragen. Der fünfte heißt Parade und ist ebenfalls von Bonné übersetzt und bei Suhrkamp erschienen.
Parade ist der geeignete Titel für dieses Defilee an Gedanken, Meinungen und Ideen, aufgezeichnet und in Form gebracht von Rachel Cusk. Zwar steht „Roman“ unter dem Titel, doch mit der üblichen Gattungsbezeichnung hat Parade wenig gemein. Exakt zu definieren und abzugrenzen ist die literarische Gattung Roman ohnehin nicht, doch von einem Roman erwartet man eine Erzählung, eine fortschreitende Handlung. Allerdings ist die Gattung Roman – die Bezeichnung ist im 17. Jahrhundert entstanden und hat die Gattung Historie abgelöst – ständigem Wandel unterworfen. Selbst wenn irgendjemand Regeln für einen Roman aufstellen wollte, niemand müsste sich daran halten. Meist sind es ja nicht die Autorinnen, die sagen: „Das ist ein Roman“, sondern die Verlage, die einen Roman leichter an die Leserinnen bringen als ein undefinierbares Etwas. Jedenfalls ist ein Roman kein Sachbuch, kein historisches Werk, kein Märchen, keine Legende oder Sage, auch wenn die Handlung (neudeutsch: das Narrativ) fiktional ist, von der Autorin, dem Autor ausgedacht (erlebt, geträumt oder gefühlt). In diesem Sinne kann man über Parade vor allem sagen, was dieses Werk alles nicht ist. Folgt man dem österreichischen Schriftsteller Heimito von Doderer, so „handelt es sich bei einem Werk um einen Roman, wenn man nicht sagen kann, was darin vorkomme.“ (zitiert aus Wikipedia / Frankfurter Allgemeine), so muss man feststellen: Parade ist ein Roman.
Es wird jedenfalls keine stringente Geschichte erzählt, auch kaum gehandelt, sondern vor allem gesprochen und diskutiert. Die Themen sind vielfältig und betreffen auch die Leserinnen. Die Hauptfrage, die immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven gestellt wird, ist: Wie kann eine Frau Kunst und Kreativität mit dem alltäglichen Leben, Kinder, Brotberuf, Dominanz der Männer und auch Gewalt, vereinen.
Rachel Cusk, die sich als Erzählerin hinter einem anonymen Wir versteckt, berichtet von Künstlerinnen (und auch Künstlern), die alle den Namen G tragen, was ziemlich verwirrend ist. Allerdings haben Kennerinnen des zeitgenössischen Kunstmarktes das Vergnügen, so zu (er)raten, wer hinter den angedeuteten Biografien steckt. Auch wenn das gleich zu Beginn mit dem Bericht von Auf dem Kopf stehenden Bildern noch einfach ist, habe ich gut 20 Seiten benötigt, um einen Sinn zu finden und zu verstehen, worum es der Autorin geht. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass Parade mir die erste Begegnung mit der gepriesenen kanadisch-britischen Autorin beschert hat. Denke ich an die fünf Jahrzehnte zurück ins vergangene Jahrhundert, dann ist das, was Cusk anbietet, gar nicht so neu. Der Neue Roman, ohne Helden, doch mit zerbröselter Handlung, einer oft scheinbar ohne Esprit dahinplätschernden Sprache und verkorksten Formulierungen, hat als Nouveau Roman in Paris der 1960er Jahre weniger fröhliche als befremdliche Urständ gefeiert. Und Alain Robbe-Grillet (1922–2008) oder Claude Simon (1913–2005) sind mir noch recht gut in Erinnerung. Die Laudatio, die am 10. Dezember 1985, dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel, in Stockholm auf das Werk Claude Simons gehalten worden ist, könnte ich auch auf Rachel Cusk anwenden, es müsste nur das Personalpronomen ausgetauscht werden:
Der Nobelpreis für Literatur 1985 wurde Claude Simon verliehen, der in seinem Roman die schöpferische Kraft des Dichters und des Malers mit einem vertieften Zeitbewusstsein in der Darstellung der menschlichen Existenz verbindet.
Robbe-Grillet, ein Multitalent, hat nicht nur „neue Romane“ geschrieben, sondern auch Filmdrehbücher, etwa für Letztes Jahr in Marienbad, auch war er als Film-Regisseur erfolgreich. Er legt die Verbindung zum Nouveau Cinema, auch Nouvelle Vague, der „Neuen Welle“, die durch nahezu alle auch danach noch wichtigen französischen Regisseure und die Regisseurin Agnès Varda vertreten wurde und für zahlreiche Schauspielerinnen den Beginn einer Karriere bedeutete. Fazit: So neu und so schwierig zu lesen sind Rachel Cusks Werke gar nicht, mit ein wenig Geduld ist man eingelesen und hat viel Freude an den Künstlerinnen, die durch die Kapitel, deren Titel nicht leicht mit den Texten in Einklang zu bringen sind, geistern und die Diskussionen, die klug und mit Esprit geführt werden. Was die Leseanstrengung betrifft: Kein Vergleich mit Claude Simon, bei dessen späten Werken ich schon mit aller Kraft gegen das Schlafbedürfnis ankämpfen musste. Cusk bietet allerhand Aufregendes und auch Komisches, um jegliches Gähnen zu vertreiben. Schon 2010 urteilte der Kritiker Curtis Sittenfeld in der NYT:„Eine erstklassige Autorin mit beißender Intelligenz und kompromisslos genauer Beobachtungsgabe.“ Und dabei bleibt es. Auch der jüngste Roman, Parade, bekommt von der NYT einen Jubelrefrain: „Hier kommt das nächste bahnbrechende Werk einer der wichtigsten Autorinnen unserer Zeit.“ Solche Töne machen neugierig auf vergangene und kommende Romane, oder wie immer man Rachel Cusks Texte nennen mag. Sie zu lesen, ist zeitgemäß, nämlich klimaschonend, nachhaltig und voll von gesunden Ballaststoffen.
Rachel Cusk: Parade, Roman, aus dem Englischen von Eva Bonné, 171 Seiten, Suhrkamp 2024. € 24,70. E-Book: € 21,99.