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Zurück in die Pandemie, hinein in die Einsamkeiit

Elizabeth Strout bei Leserinnen und Kritikerinnen beliebt.

Lucy Barton wird von ihrem Ex-Mann überredet, ihre Wohnung in New York zu verlassen und mit ihm nach Maine ans Meer zu reisen. In der Großstadt wüte ein Virus, meint er, die Ansteckungsgefahr sei zu groß. Am Meer heißt der neue Roman der renommierten amerikanischen Autorin Elizabeth Strout.

Die Küste von Maine, wo sich William mit seiner Exfrau Lucy einquartiert, um vor dem Virus sicher zu sein. Lucy stimmt zu, auch wenn sie keine Ahnung hat, was William da redet, reist sie mit ihm in das gemietete Haus an der Küste. William ist Biologe und reagiert auf die ersten Meldungen über das neue Virus SARS-CoV-2, das sich unter Menschenansammlungen rasend schnell verbreitet. Nur ein paar Wochen soll Lucy mit William in dem gemieteten Haus an der einsamen Küste von Maine bleiben. Bevor sie noch ihren Koffer ausgepackt hat, geht ihr New York schon ab. Als die Zeitungen vom Ausbruch der Pandemie und dem strengen Lockdown berichten, wacht Lucy endlich auf. Doch sie bleibt unzufrieden und unglücklich, sorgt sich dauernd um ihre erwachsenen Töchter und deren Männer und trauert um ihren zweiten Mann, David, der vor mehr als einem Jahr verstorben war.

Aber mein Mann David: An ihn dachte ich – natürlich! – sehr viel in dieser Zeit. Ich dachte an die schlimme Hüfte, die er von einem Unfall in seiner Kindheit zurückbehalten hatte und die ihn sehr unbeweglich machte, und ich dachte: Mein Gott, er wäre an diesem Virus sicher gestorben! Außer- dem war er Cellist bei den Philharmonikern gewesen, und die Philharmoniker spielten nicht mehr. Das ganze Lincoln Center war geschlossen. Auch das war so etwas Unfassliches für mich; irgendwie raubte es mir David noch vollständiger, das meine ich damit. Auf meinen Spaziergängen dachte ich: David! Wo bist du? (Zitat aus dem Roman, Seite 42)  Leuchttürme säumen die  Küste von Maine, auch in der Nähe des von William gemieteten Hauses steht einer. © Ali / wikimedia

Lucy jammert sich durch die öden Tage, lässt sich von William bekochen, kann ihn aber nicht anschauen, weil sie dabei an David denken musste, der sie „auf Händen getragen hat“, wie ihre Freundin gesagt hat und auch an den Abended, die er im Konzertsaal Dienst hatte, vorgekocht hatte. Lucy Barton ist eine erfolgreiche Schriftstellerin, wie ihre Schöpferin, und obwohl William ihr ein Dachzimmer als Schreibstube einrichtet bringt sie keine Zeile zustande. Sie kann sich nicht aus ihrer Trauer lösen, sie lässt die erwachsenen Töchter nicht los und flüchtet sich schließlich in die Arme von William, den sie wegen seiner zahlreichen Affären verlassen hat. Doch zerstritten waren die beiden nie, Lucy hat sogar mit seinen beiden weiteren Frauen, die ihn ebenfalls verlassen haben, freundschaftlich umgehen können. Bald wandelt sich die Trauer um den wunderbaren David in Wut und sie ist böse auf ihn, weil er ihr nicht im Traum erscheint. Und irgendwann verspürt sie auch „einen regelrechten Hass auf William.“ Endlich findet sie etwas, was ihre wunde Seele etwas lindert. Jeden Abend veranstaltet die Sonne bei ihrem Untergang ein farbenprächtiges Schauspiel. Endlich empfindet Lucy etwas Freude.  © bilder.4ever.euWenn sie auf der Veranda steht und durch das hinterste Fenster schaut, kann sie den Sonnenuntergang sehen. „Was für ein Schauspiel!“ Lucy Barton kann auch Freude fühlen. Was für eine Wohltat für die Leserin!
Elizabeth Strout schreibt also weiter an Lucys Tagen in Maine, die wie ein Tagebuch funktionieren, Lucy ist der Nabel der Welt.
„Für ihn bist du einfach eine ältere weiße Frau, die über ältere weiße Frauen schreibt.“ Ihre Tochter Becka sagt ihn in einem Gespräch über ihren Mann Trey, einen Dichter und ihre unglückliche Ehe. Ein Satz, der exakt meine Gefühle beim Lesen von Lucys Aufzeichnungen wiedergibt.
Im jüngsten Roman von Elizabeth Strout begegnet Lucy einer Figur aus einem anderen Roman: Olive Kiterige, die Romanfigur ergibt den Titel. © Penguin Random HouseSie lamentiert sixh durch ein Jahr Pandemie und gewöhnt sich allmählich daran. Das muss jetzt nicht geschildert werdcn, alle, alle haben es selbst erlebt, das Maskentragen, die Impfgegnerinnen, die leeren Straßen, die Angst um Infizierte aus dem Familien- oder Freundeskreis, die Schuldsuche und Beschimpfung von willkürlich ausgewählten Sündenböcken … Wozu das alles lesend noch einmal erleben? Den Lobreden, die Elizabeth Strout begleiten, kann ich nicht folgen. Langweilig war mir die Lektüre nicht, weil ich von Seite zu Seite wegen der Empfindlichkeiten und auch Empfindsamkeiten dieser Lucy Barton wütender geworden bin. Sie will die Menschen um sie herum nach ihrem Bild formen und ist entweder besorgt oder verärgert, wenn sie ganz anders sind. Leserinnen von Elizabeth Strout ist Lucy Barton samt ihrem ersten Mann William und vielen anderen aus ihrem Kreis um sie keine Unbekannte. 2016 ist mit My Name is Lucy Barton / Die Unvollkommenheit der Liebe der erste Band erschienen. 2021 folgt Oh William! / Oh William!. Das Rathaus der kleinen Stadt ShirlyFalls in Maine. Strouts Orte sind alle fiktiv, doch für Kennerinnen der Landschaft von Maine sicher leicht zu identifizieren. © maeineencyclopedia.comUnd nun ist eine Trilogie vollendet, die, wie alle anderen bei Luchterhand übersetzten Strout-Werke, von Sabine Roth meisterhaft ins Deutsche übertragen ist: Lucy by the Sea / Am Meer heißt dieser Band, dem bereits ein weiterer  Lucy-Roman gefogt ist. Tell Me Everything ist der Titel, unter dem nicht nur von Lucy Barton, erzählt wird, sondern auch den Staatsanwalt Bob Burgess, mit dem sie sich während der Pandemie angefreundet hat, in den Mittelpunkt rückt.. Lucy befeundet sich mit einer ebenso ekannten Romanfigur Strouts, der  weniger zart besaitete.sharfzüngigen Mathe-Lerherin Olive Knitteridge. Sie genießt ihre Pension in Maine, Lucy wird ihr vorgestellt. „My Name is Lucy Barton“, übersetzt mit „Die Unvollkommenheit der Liebe“: Cover des ersten Bandes der Romane mit Lucy B. im Mittelpunkt von Elizabeth Strout. © Taschenbuchausgabe von btb Strout Elizabeth
Olive Kitteridge
ist Buchtitel und Name der Hauptperson zugleich. Der Roman ist 2007 erscheinen und auch Luchterhand huldigt hie und da der Verlagsunsitte, die mit Bedacht gewählten Originaltitel in der deutschen Version zu ersetzen, passen muss er nicht mehr, stimmen auch nicht, doch die Marketingabteilung muss ihre Freude bekommen. So heißt der Roman über die eindrucksvolle Olive auf Deutsch Mit Blick aufs Meer. Da war guter Rat teuer, als 2019 Olive, Again (Olive, schon wieder) erschienen ist. Man konnte dem Publikum über den Titel nicht signalisieren, dass der neue Roman wieder von Olive Kitteridge erzählt. Der Roman über Olive K. hat Elizabeth Strout 20o9 den Pulitzer-Preis eingebracht, mit der schlappen Einladung Die langen Abende war kein Preis zu gewinnen. Den hat Strout dann 2022 in Hamburg entgegengenommen, benannt nach dem deutschen Schriftsteller Siegfried Lenz (1926–2014). Elizabeth Strout ist nicht Lucy Barton, die ganz selten lacht. Bildquelle: Luchterhand Presseportal, © Yoon S. Byon / strewnwonder.comSie befindet sich in guter Gesellschaft: Amos Oz (1939–2018) war der erste Preisträger, kurz nach der Gründung des Preises durch die Siegfried Lenz-Stiftung. Auch Julien Barnes, Richard Ford, und Ljudmila Ulitzkaja wurde von der Jury gewählt.
Elizabeth Strout ist 1956 in Portland / Maine geboren, und dort spielen alle ihre Romane, wenn auch die Orte, die namentlich genannt werden, fiktiv sind. Doch Land und Leute werden aufmerksam betrachtet und genau beschrieben. Wenn man dieser freundlichen Zuneigung zu allen Menschen, dem Getier und manchmal auch zu den Dingen nichts abgewinnen kann, so fallen mir keine literarisch wirksamen Epitheta ein, womit ich Elizabeth Strout als besonders lesenswert empfehlen könnte. Cover des aktuellen Bandes mit Lucy Barton als Ich-Erzählerin: „Am Meer“. © LuchterhandAnlässlich des mit dem Pulitzer-Preis gekrönten Romans Olive Kitteridge (ausgerechnet Olive ist keine, die am Fenster sitzt Mit Blick aufs Meer, wie der deutsche Titel glauben lässt) hat Martin Halter in der FAZ als schmückende Beiwörter „warmherzig, anrührend, lebensklug, aber nie sentimental oder weltfremd“ eingesetzt. Als Beispiel für warmherzig, lebensklug (und noch dazu auch humorvoll) nenne ich Kent Harufs sämtliche Romane und ein hervorragendes Beispiel für einen Postpandemie-Roman kann ich auch nennen: Tim Parks: Hotel Milano.

Elizabeth Strout: Am Meer (Lucy by the Sea), Deutsch von Sabine Roth. 288 Seiten, Luchterhand 2023. € 24,70.