Das Spiel der Welt kennt keine Siegerinnen
2021 in Shanghai. Die alten Männer des Internationalen olympischen Komitees (IOC) beraten, wer in elf Jahren die Sommerspiele ausrichten darf, Afrika oder Europa. Aus Mosambik ist der Hansdampf und IOC-Funktionär Charles Murandi als Lobbyist angereist. Er wird die Abstimmung nicht beeinflussen. Er liegt tot im Hotelbett. Ermordet! Die Spiele nennt Stephan Schmidt seinen Kriminalroman, der viel mehr bietet als eine lange Mördersuche.
Anfangs sieht alles einfach aus: Schnell haben die chinesischen Behörden einen Verdächtigen in Gewahrsam, den ehrgeizigen deutschen Journalisten Thomas Gärtner. Ihn hat die Videokamera als letzten Gast Murandis identifiziert. Doch Gärtner hat keine Ahnung von diesem letzten Abend, gerade weiß er noch, dass er Murandi in dessen nobler Suite besucht hat. Gärtner hat ein Zimmer nur wenige Schritt entfernt davon gebucht. Schließlich war er mit Murandi verabredet gewesen. Mehr weiß er nicht, nicht wie er in sein Zimmer gekommen ist, nicht, wohin die Akten verschwunden sind, die er mitgenommen hat.
Kennen und fatalerweise auch lieben gelernt hat Thomas Gärtner Charles Murandi 1994 in Mosambik bei einer Demonstration der Madgermanes.. Gärtner kommt mit einem der Demonstranten, Charles Murandi, ins Gespräch und macht es sich zur Aufgabe, diesen Männern zu ihrem Recht zu helfen. Schnell ist er von der selbst gestellten Aufgabe besessen, bleibt mit Murandi in Kontakt, der erfolgreich an seiner Karriere arbeitet. Gärtner meint, mit Murandi befreundet zu sein, kann den Karrieristen, der längst kein betrogenes Opfer mehr, sondern selbst Betrüger ist, nicht durchschauen. Thomas Gärtner wird nicht nur von Murandi zum Opfer gemacht.
Murandi hat Gärtner versprochen, ihm geheime Dokumente über Chinas Geschäfte in Afrika zu übergeben. Sie sind verschwunden. Um seine Freilassung kümmert sich die Konsularbeamtin Lena Hochfellner. Dass sie einander schon lange kennen, soll niemand wissen. Nicht nur die chinesischen Behörden tragen Masken, hinter denen sich kaum entwirrbare Geheimnisse verbergen. Auch Lena zeigt nicht ihr wahres Gesicht, es sieht nur so aus, als stünde sie am Rand der Geschichte, in der keiner und keinem zu trauen ist und die Täterinnen zugleich Opfer sind.
Die chinesische Politik lebt von variablen Regeln und Gesetzen, die auch rückwirkend gelten. Virtuos webt Autor Stephan Schmidt an dem komplizierten Netz aus Politik und Wirtschaft, aus Korruption und Intrige und den Spielen, an den alle beteiligt sind, ohne die Regeln zu kennen. Schmidt ist Asienkenner, und wenn er über die chinesische Politik und auch das chinesische Privatleben schreibt, dann darf man ihm glauben. Das chinesische Spiel ist undurchschaubar, dauernd werden die Regeln geändert und gelten dann auch rückwirkend. Es gibt Strafen für Fehler, die man nicht begangen hat, nicht begehen konnte, weil es diesen noch nicht gab. Das chinesische Politspiel ist (nicht nur im Roman) lebendige Perfidie. In wenigen Sätzen nur schildert Schmidt, wie China seine Wirtschaftsinteressen in Afrika durchsetzt. Die Charaktere im Roman werden ebenso belogen, betrogen und als Spielfiguren benutzt wie die afrikanische Wirtschaft. Der Roman Die Spiele ist mehr als ein Krimi, fast ein Tatsachenroman, jedenfalls gut recherchiert und glaubwürdig erzählt. Der Autor täuscht nicht, er schreibt Klartext, erhöht die Spannung, indem er auf eine lineare Erzählweise verzichtet und den Mord als Angelpunkt verwendet, um den sich die weit zurückreichenden Geschehnisse als Ursachen drehen, macht den Roman spannend, auch wenn kein schlauer Detektiv neben der Polizei von Shanghai den Mord aufklären will. Shanghai ist der Tatort, doch reicht die Geschichte von Charles Murandi, Thomas Gärtner und Lena Hochfellner weit zurück, zeitlich wie geografisch. Eine Freude ist Schmidts Charakterisierung seines erfundenen Personals, dabei mangelt es ihm nicht an leisem Humor. Überdies hat er so viel Wissen in die 400 Seiten verpackt und teilweise auch durch bibliografische Hinweise belegt, dass die Lektüre jeden Urlaub zum Abenteuer macht.
Trotzdem, ab und zu wird sie es wohl vermissen. Um den Reiz des Ganzen zu verstehen, muss man nah dran gewesen sein – am einzigen Spiel der Welt, das keinen Sieger kennt, weil die Regeln erst feststehen, wenn die Partie vorbei ist. Mit anderen Worten: nie. (Gedanken der erfundenen Figur der Kanzlerin, die für einen Tag nach Shanghai gereist ist, um für das Projekt von gesamteuropäischen Spielen zu werben.)
Thomas Schmidt hat mit Die Spiele seinen ersten Roman vorgelegt, doch ist er wahrlich kein Debütant, unter seinem Pseudonym hat Schmidt bereits genügend Erfahrung gesammelt, Anerkennung und auch Preise gewonnen. Er ist mit einer Thaiwanerin verheiratet und lebt seit 2022 in Taipeh.
Stephan Schmidt: Die Spiele. 416 Seiten, DuMont Buchverlag, 2024. € 24,70. E-Book: € 20,60.