Ein Neujahrsprojekt: Die Leseliste abarbeiten
Das Neueste vom Neuen auf der Leseliste erscheint gemeinhin erst Mitte Februar des neuen Jahres. Also ist noch Zeit, alte Schulde n aufzuarbeiten, den Berg an gelesenen, aber nicht besprochenen Büchern abzutragen. Kurz nur soll auf manche Titel hingewiesen werden und noch kürzer wird über manche der Daumen gesenkt. In ungeordneter Reihenfolge, wie sie auf dem Schreibtisch gestapelt sind, nehme ich mir die Bücher vor, die noch 2023 erschienen sind, doch deshalb noch lange keinen Schimmel angesetzt haben.
Am Anfang ein Debüt, ebenso unterhaltsam wie lesenswert, mit dem verlockenden Titel Die letzten Strahlen eines Sterns. Amanda Lee Koe, geboren in Singapur als älteste Tochter chinesischer Eltern, ist die Autorin, die nicht einen Stern, sondern deren drei strahlen lässt, indem sie deren Lebensweg bis zu ihren letzten Tagen beschreibt. Auf die Idee ist sie durch ein Bild gekommen, das 1928 vom Fotografen Alfred Eisenstaedt in einem Ballsaal geknipst worden ist. Darauf sind die damals noch unbekannten Filmschauspielerinnen Marlene Dietrich und die chinesisch-stämmige US-Amerikanerin Anna May Wong mitsamt der damals noch als Darstellerin auftretenden späteren Regisseurin Leni Riefenstahl zu sehen. Sie haben einander offensichtlich gekannt, wenn vielleicht auch nur flüchtig. Koe konstruiert nun die ineinander verschlungenen Lebensgeschichten der drei Frauen, wobei sie gekonnt Fakten und Fiktionen mischt und ihrer Fantasie bruchlos freien Raum lässt. Alle drei Frauen haben mit dem Film zu tun, die Schauspielerinnen Dietrich und Wong und die Regisseurin Riefenstahl. Koe schildert nicht nur die künstlerischen Karrieren, sondern zeigt dahinter auch die Menschen und bettet sie in ihre Zeit, nahezu das gesamte 20. Jahrhundert ein. Ein vielschichtiger Roman, der mit der Wechselwirkung von Realität und Fantasie spielt und beides gleich perfekt und wirklichkeitsnahe erzählt.
Erzählt Koe in ihrem ersten Roman von der Vergangenheit, so blickt der französische Bestsellerautor Pilippe Djian (Betty Blue, Diogenes 1988, 34. Auflage) in die Zukunft. Im Jahr 2030, zehn Jahre nachdem „das Mädchen mit den Zöpfen“ zum ersten Klimastreik aufgerufen hat, hat sich nichts verbessert. Im Gegenteil, die Gier ist gewachsen, während die Gletscher geschmolzen sind. In einem Chemielabor wird die Giftigkeit eines Pestizids verschwiegen, das veröffentlichte Gutachten ist gefälscht. Die verschwägerten Geschäftsführer, Greg und Anton, geraten darüber in Streit. Greg wirft samt den Papieren auch seine Beteiligung hin. Das Gewissen beruhigt er, indem er seine Nichte in ihrem Engagement gegen den Klimawandel unterstützt. Dabei lernt er die Verlegerin Vera kennen. Nun wandelt sich der kritische Roman in eine heiße Liebesgeschichte. Das Engagement landet im Bett und löst sich im Liebesspiel auf. Alte Herren –Djian ist 75 – können’s nicht lassen. Im letzten Drittel von Ein heißer Sommer (Original 2030) bricht der Roman einfach ab, der Autor h signalisiert, dass den Menschen private Bettgeschichten wichtiger sind, als die Welt draußen.
Joachim B. Schmidt jedoch setzt eine Grundidee fort und liefert nach dem entzückenden Roman über Kalmann (Diogenes, 2022) eine weitere Geschichte mit dem selbsternannten Sheriff von Raufarhöfn in Island. Kalmann ist erwachsen, doch im Herzen ist er ein Kind geblieben und die Räder in seinem Kopf laufen manchmal rückwärts. Doch Kalmann ist mutig und gibt nicht auf, wenn er Ungerechtigkeit und sogar Mord wittert. Sein amerikanischer Vater hat ihn zu seiner Familie eingeladen und mit der Sippschaft landet Kalmann in Washington und im dortigen Gefängnis. Wieder zu Hause, muss er sich um den Tod seines Großvaters kümmern, der ihm gar nicht so natürlich erscheint, wie in der Sterbeurkunde geschrieben steht. Die Wucht von Schmidts Roman Tell und der Charme des ersten Kalmann-Bandes sind ein wenig verblasst. Die Vermischung des Sturms auf das Kapitol 2021 mit dem Kalten Krieg, als Amerika das NATO-Mitglied Island als Stützpunkt für Marine- und Luftwaffeneinheiten nutzten, wirken krampfhaft. Ein Nachfolger eben, der an den Erfolg des ersten Bandes nicht heranreicht.
Der letzte Roman des israelischen Schriftstellers Meir Shalev, der im April 2023 mit 75 Jahren verstorben ist, passt auch in das Genre Altherrenprosa. Zwei Brüder treffen einander Jahr für Jahr in Israel, wo Boas lebt. Itamar, der Ich-Erzähler kommt aus den USA auf Besuch und vom intensiven Liebesabenteuer einer Nacht, das lange zurückliegt. Erzähl’s nicht deinem Bruder ist sowohl der originale wie der deutsche Romantitel, doch natürlich plaudert Itamar alles aus und dann pflegen die Brüder wie alljährlich ihren Meinungsaustausch. Für Liebhaberinnen Shalevs ein letztes Gustostückerl, wie immer, feinstens übersetzt von Ruth Achlama.
Die großartige Schriftstellerin Dame Hillary Mantel (1952–2022) hat den Leserinnen hinreißende historische Romane geschenkt. Mit einem Band Erzälhungen aus der Kindheit zeigt Mantels deutscher Verlag, DuMont, eine völlig andere Seite der vielgepriesenen Autorin. Sprechen lernen enthält Erzählungen vom Aufwachsen in den 1950er- / 60er-Jahren. Kinder, Mädchen und Buben, erleben Einsamkeit und Verlassenwerden, Teenagerschmerzen und Gefühle, die sie nicht benennen können. Wie sich Mantel in die historischen Figuren ihrer großen Roman einfügt, kennt sie auch die Fantaisien und die Sprache der Kinder. Die Geschichten in Learning to Talk sind nur manchmal heiter, meistens traurig, auch wenn die heranwachsenden Erzähler:innen das selbst wohl nicht so sehen. Mantel bietet mit den autofiktionalen Geschichten ihren Leserinnen an, über die eigene Kindheit und auch über die Sprache hres Erzälen zu reflektieren. Perfekt gelingt es der Autorin, sich in die fantasievolle, poetische Sprache der Kinder hineinzufinden. Mitunter fehlt dem Kind die Sprache, weil das Verständnis fehlt, dann bleibt einfach eine Leerstelle. Ihr Übersetzer, Werner Löcher-Lawrence, gibt den im Original bereits 2003 erschienen Geschichten, eine warme Empfehlung: „Will man Hilary Mantel und ihr Werk wirklich verstehen, sollte man Sprechen lernen und Von Geist und Geistern lesen.“
Der Autor Luca Ventura hat bereits den 4. Band seiner Capri-Krimis bei Diogenes untergebracht. Mir genügt der aktuelle, er hat mir nur wenig Freude bereitet. Bleich wie der Mond, zeichnet sich vor allem dadurch aus, ohne den geringsten Hauch der geliebten Italianità auszukommen. Wäre es nicht heiß unterm „Pinienduft“, könnte der Kommissar auch in Island umherwandern. Statt um einen Toten im Mozzarella Bottich ginge es dort eben um einen in der Fisch-Wanne. Dass es ausgerechnet Mozzarella sein muss, ist besonders ärgerlich, gibt es doch immer wieder Nachrichten von gequälten Büffeln. Doch in einem Urlaubsroman haben solche Kritikpunkte keinen Platz. Eines jener Bücher, die sich für eine lange Zugreise eignen. Man blättert sie durch, bis die Auen zufallen. Dann darf der charmlose Roman im Zug bleiben.
Luca Ventura ist natürlich ein Pseudonym, der Autor lebt am Golf von Neapel und schreibt auf Deutsch. Da krame ich doch lieber einen uralten Roman über Capri heraus, der erst kürzlich neu aufgelegt worden ist: Der schwedische Arzt Axel Munthe (1857–1949) hat seine Erinnerungen an einen Sehnsuchtsort in der Bucht von Neapel im Buch von San Michele veröffentlicht. Mit O. W. Fischer, Rosanna Schiaffino und Sonja Ziemann ist der Bestseller 1962 verfilmt worden. Die Kritiken waren nicht überwältigend. Dennoch, Munthe hat auch heute noch einiges zu erzählen. Schließlich war er zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein bei den Damen beliebter Modearzt, überdies Leibarzt der schwedischen Königin Viktoria. Als Gast König Gustavs ist er im königlichen Schloss in Stockholm gestorben. Erinnertes und Erdachtes, Pathos und Humor, keineswegs große Literatur, aber immer noch amüsanter und lockerer geplaudert als Luca Ventura.
Amanda Lee Koe: Die letzten Strahlen eines Sterns / Relaxed Rays of a Star, aus dem Englischen von Zoë Beck. 480 Seiten, Kein & Aber, Pocket, 2023. € 16,50.
Deutsche Erstausgabe 2022 bei CullturBooks Verlag, € 28,80.
Philippe Djian: Ein heißes Jahr / 2030, aus dem Französischen von Norma Cassau. 240 Seiten, Diogenes, 2023. € 24,70.
Joachim B. Schmidt: Kalmann und der schlafende Berg. 304 Seiten, Diogenes, 2023. € 24,70.
Meir Shalev: Erzähl’s nicht deinem Bruder, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. 304 Seiten, Diogenes, 2023. € 25,70. Hillary Mantel: Sprechen lernen / Learning to Talk, Erzählungen, aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. 150 Seiten, DuMont, 2023. € 22,70.
Von Geist und Geistern. Autobiografie / Giving Up the Ghost (A Memoir), aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. 240 Seiten, DuMont, 2016. Softcover: € 11.30; Hardcover: € 20,60.
Luca Ventura: Bleich wie der Mond. Der Capri Krimi. 304 Seiten. Diogenes, 2023. € 16,50.
Axel Munthe: Das Buch von San Michele. Erinnerungen an einen Sehnsuchtsort in der Bucht von Neapel, aus dem Schwedischen von Gudrun Uexküll-Schwerin. 464 Seiten. Ullstein Taschenbuch, 2022. € 15.50.