Die Vergangenheit bleibt immer gegenwärtig
Mehr als zehn Jahre nach ihrem 2011 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichneten ersten Roman, Engel des Vergessens, hat die österreichische Autorin Maja Haderlap ihren zweiten Roman fertiggestellt. Nachtfrauen könnte als Fortsetzung von Engel des Vergessens gelesen werden. Das Kind, das damals erzählt hat, ist erwachsen geworden, die Vergangenheit ist nicht vergangen.
Mira heißt die Hauptperson, von der erzählt wird. Sie ist als Angehörige der slowenischen Minderheit im Jauntal geboren, doch hat sie sich längst vom Dorfleben befreit. Aktuell lebt sie mit ihrem Mann in Wien und arbeitet als Fachreferentin für Frauenfragen. Die Parallelen zu Leben und Herkunft der Autorin sind kein Geheimnis. Mira macht also einen Besuch bei ihrer alten Mutter, Anni. Sie meint, mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen zu haben, und auch wenn das Dorf nicht mehr dem ihrer Kindheit gleicht, wird die Vergangenheit wieder lebendig. Der Roman zerfällt in zwei Hälften, der zweiten Teil gehört Miras Mutter, Anni, die von ihrer allgegenwärtigen Vergangenheit erzählt. Im Zentrum steht, wie schon in Engel des Vergessens, die Sprache als Identitätsgrundlage und die Herkunft der Protagonistinnen. Wie Maja Haderlap selbst gehört auch die Familie Miras zur slowenischen Minderheit in Kärnten, und Mira lebte lange Zeit im Zwiespalt zwischen Stolz und Scham. Sollte sie sich zu ihrer Herkunft bekennen, slowenisch sprechen und Deutsch als Fremdsprache betrachten, oder sich anpassen, das slowenische Erbe unterdrücken und mit den Wölfen heulen? Als Erwachsene ist dieser Konflikt beigelegt, denkt Mira. Ihre Mutter soll ins Heim siedeln, deshalb kehrt Mira nach vielen Jahren wieder in ihr Heimatdorf zurück. Der alte Hof soll samt Annis Häuschen verkauft werden, Anni hat sich damit abgefunden, zu übersiedeln. Viel ist nicht zu tun, also gibt sich Mira, durch die Landschaft streifend, ihren Erinnerungen hin, kramt in alten Alben und beginnt auch ein Verhältnis mit ihrer Jugendliebe Jurij. Im zweien Teil wechselt Haderlap die Perspektive, nicht mehr von Mira wird erzählt, sondern von den Erinnerungen Annis, der Mutter, die selbst an ihre Mutter und deren Leben zurückdenkt.
Schon in Engel des Vergessens haben die anschaulichen, gefühlvollen Bilder, die Haderlap für die Landschaft, die Jahreszeiten, das Dorf und die Tradition findet, fasziniert. Bevor sie sich der Prosa gewidmet hat, hat Haderlap schon slowenische Gedichte geschrieben und mehrere Lyrikbände auf Slowenisch und Deutsch veröffentlicht. Die poetischen, zum Zitieren auffordernden Sätze fügen sich jedoch nicht zu einem geschlossenen Roman, in den ich so richtig eintauchen kann. Nicht nur, dass Nachtfrauen durch den Perspektivenwechsel auseinanderfällt und mehr wie eine dokumentarische Untersuchung von Frauenschicksalen wirkt, erscheinen viele Szenen konstruiert. Zuerst war das Thema da, das die Autorin behandeln will, dann wurde es in den Ablauf eingepasst. Eine flüssige Handlung ist nicht vorhanden, wobei diese auch nicht notwendig ist. Haderlap geht es um Erinnerungen, um Konflikte und Verletzungen, den Lebenskampf von Frauen unterschiedlicher Generationen. Daraus fügt Haderlap ein etwas graues Mosaik, das mir fremd bleibt. Die Frauen, Mira, ihre Schwester Dragica, ihre Mutter Anni, Olga, die Haushaltshilfe und viel andere, sprechen zu mir aus weiter Ferne – Haderlap hält sie alle und auch sich selbst wohl absichtlich auf Distanz zur Leserin – und ich verstehe nichts. Wien und das Jauntal, in dem der Roman angesiedelt ist, liegen auf zwei unterschiedlichen Planeten. Wer bin ich, woher komme ich, wer möchte ich sein? Fragen, die bei der Lektüre auftauchen und so doch eine Verbindung zu Maja Haderlaps Roman herstellen.
Maja Haderlap: Nachtfrauen, Suhrkamp, 2023, 4. Auflage. 294 Seiten.
€ 24,70 Euro. E-Book € 21,00