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Erinnerung an den Tanzvisionär John Cranko

Geliebt und unvergessen: der Choreograf John Cranko

John Cranko, der legendäre Choreograf, der in den 1960er Jahren das Stuttgarter Ballett zu einem weltberühmten Ensemble gemacht hat, ist schon lange tot. Doch sein Ruhm ist auch 50 Jahre nach Crankos unerwartetem Tod so lebendig wie seine großartigen Choreografien. Ein üppiger, auch schwerwiegender Bildband erinnert an den großen Choreografen, der in nur 12 Jahren ein Wunder vollbracht hat, das Stuttgarter Ballettwunder.

John Cranko mit Ballettmeister Alan Beale vor der Metropolitan Opera (MET) in New York, 1969.Mit 17 Jahren hat John Cranko sein erstes Werk choreografiert. Als Partitur wählte er Igor Strawinskys Geschichte vom Soldaten. Noch in der Ballettschule in Kapstadt, geboren ist er 1927 in der Nähe von Johannesburg, wusste er, dass er choreografieren wollte, Körper bewegen, damit sie Geschichten erzählen. Tanzen hat er nur gelernt, weil man das als Choreograf braucht. Sehr erfolgreich war er nicht. Er erfüllt sich den Traum, nach London zu gehen, wird in der Sadler’s Wells Scholl, der späteren Royal Ballet School, aufgenommen und hört mit 23 auf zu tanzen, um sich ganz der Choreografie zu widmen. Doch sofort klappte der Aufstieg zum Star nicht, er musste sogar Buh-Rufe einstecken. Ende der 1950er Jahre erhält er überraschend eine Einladung nach Deutschland. Die Tänzerin Svetlana Beriosova hat ihrem Vater, Nicholas Beriozoff, der seit 1957 das Ballett an den Württembergischen Staatstheatern geleitet hat, den Vorschlag gemacht, Cranko einzuladen. m Ballettsaal mit Bernd Berg und Marcia Haydée, 1962.Der unterbeschäftige Choreograf studiert mit der Truppe den aufgefrischten Pagodenprinzen ein. 1957 ist seine Choreografie The Prince of the Pagodas zur Musik von Benjamin Britten mit Svetlana Beriosova und dem Sadler’s Wells Ballett im Royal Opera House uraufgeführt worden. Noch am Abend der Premiere am 6. November 1960 wird ihm der Posten des Ballettdirektors angeboten.  Er nimmt an, verlässt London, siedelt nach Deutschland und nutzt seine Chance. Im Jänner 1961 tritt er sein Amt an, mitte März zeigt er mit „seiner“ neuen Compagnie einen dreiteiligen Abend unter dem Titel Familienalbum. Zwei kleine Choreografien sind von John Cranko, die letzte, Solitaire, ist von Kenneth McMillan. Mit dem Niveau der Gruppe (so heißt das Corps de ballet in Stuttgart) ist er nicht zufrieden und beginnt, die Compagnie neu zu strukturieren, engagiert auch neue Tänzer, wie John Neumeier oder Egon Madsen. Im April tanzt Marcia Haydée vor und Cranko engagiert sie gegen den Willen des Intendanten, Walter Schäfer, der ihn wenige Monate zuvor installiert hat, als Prima Ballerina. Der Rest ist Geschichte und nachzulesen in John Crankos Lebensgeschichte, die Angela Reinhard am Ende des Bildbandes erzählt.Im Ballettsaal bei einer Probe zu Der Widerspenstigen Zähmung mit Richard Cragun und Marcia Haydée, 1969.
Reinhard ist nicht die einzige, der dieses Buch zu verdanken ist. Auch Petra Olschowski und Julia Reinhart haben in den vergangenen 15 Jahren mit 19 Zeitzeugen gesprochen und deren Erinnerungen festgehalten. Die Redaktion für das aufwändige Werk hat die Direktorin für Kommunikation des Stuttgarter Balletts, Vivien Arnold, übernommen.
Erfrischend lebendig und von Herzen kommend sind die gesammelten Statements und Erinnerungen. Tänzerinnen wie Marcia Haydée oder Birgit Keil, Tänzer wie Egon Madsen oder Richard Cragun (1944–2012), Choreografen wie John Neumeier, der sein Handwerk bei Cranko in Stuttgart gelernt hat, oder Jiři Kylián sprechen nicht nur mit Respekt und Hochachtung von ihrem Lehrer und Kollegen, sondern auch vom Einfluss, den Cranko auf ihr Leben gehabt hat. Diese Erinnerungen und Bekenntnisse machen den Charme des Buches aus und ich vergesse, dass bereits ein halbes Jahrhundert vergangen ist, seit die Bilder von entsetzten, weinenden Tänzer:innen um die Welt gingen. Vor dem Abflug zum Gastspiel in New York, 1969. Von unten nach oben: John Cranko, Marcia Haydée, Walter Erich Schäfer mit Irmgard Schäfer, John Neumeier (mit Sonnenbrille), sowie weitere Mitarbeiter und Freunde des Balletts. © Gundel Kilian / Stuttgarter BallettJohn Cranko ist auf dem Rückflug nach einer erfolgreichen Amerikatournee, es war die vierte mit dem Stuttgarter Ballett, vermutlich an einem allergischen Schock gestorben. Weil er das Bewusstsein verloren hatte, musste der Pilot in Dublin notlanden, wo Cranko sofort in ein Krankenhaus gebracht wurde und verstarb. Er ist am Fuß des Stuttgarter Schlossbergs im Solitude-Friedhof begraben. Wie Reinhard berichtet, liegen auf seinem Grab „hoch über der Stadt Stuttgart fast immer frische Blumen.“
Der frühe und unerwartete Tod eines Menschen regt natürlich zur Legendenbildung und zur Glorifizierung an, doch die Leistungen Crankos können weltweit nahezu täglich in einer Aufführung seiner Choreografien und immer wieder auch von der auch heute noch renommierten Stuttgarter Compagnie erlebt werden. Im Einleitungsbeitrag von Angela Reinhard ist nachzulesen, wie lebendig Crankos Erbe noch ist. Unter dem Titel „Vermächtnis“ beantwortet Reinhard ausführlich die Frage „Was bleibt von John Cranko?“ In diesem Essay ist mir ein Satz besonders entgegengesprungen: „Crankos Tänzer vertrauten ihm und liebten ihn – weit über seinen Tod hinaus.“ Nicht vielen seiner Kollegen kann das nachgesagt werden. Der Grabstein für John Cranko im Stuttgarter Friedof Solitude. © wikipedia
Während nicht nur in Stuttgart (mit einer Gala) des verstorbenen Meisterchoreografen gedacht wurde, sondern in sämtlichen deutschen Medien, aber auch in Großbritannien oder Tschechien, und wohl auch in Crankos Geburtsland, Südafrika, seiner gedacht worden ist, ist in Wien auf Erinnern und Gedenken völlig vergessen worden. Im Repertoire des Wiener Staatsballetts sind zwei der wichtigsten Choreografien Crankos, Onegin und Romeo und Julia, ­eine Einstudierung des dritten abendfüllenden Meisterwerks, Der Widerspenstigen Zähmung, wäre längst angebracht. Crankos erste Choreografie in Stuttgart war in Wien schon zu sehen. 13 Mal ist Der Pagodenprinz zwischen 1967 und 1971 vom Ballett der Wiener Staatsoper (Direktion Waclaw Orlikowsky) getanzt worden. Cover des reich bebilderten Erinnerungsbandes an John Cranko. © Henschel Verlag
Crankos Todestag fällt auf den 26. Juni. In diesem Jahr hat am 28. Juni die Saisonabschlussvorstellung mit dem als Kasperliade einstudierten Nurejew-Ballett Don Quixote stattgefunden. Die Gäste aus aller Welt hätten auch gejubelt, hätten man ihnen zum Gedenken an John Cranko eines seiner Meisterwerke gezeigt. Nurejews Todestag (auch ein Jubiläum übrigens), war am 6. Jänner – Feiertagszeit, da hat die Fledermaus gesungen. An John Cranko, auch wenn er Ballettliebhaber:innen unvergesslich ist, zu erinnern, wäre dem Wiener Staatsballett wohl angestanden. Sei’s drum, John Cranko ist ein Ballettstar, kein Popstar. Mit dem Bildband und den Erinnerungen seiner Zeitgenoss:innen wird ihm der gebührende Kranz geflochten.

Stuttgarter Ballett (Hg.): John Cranko - Tanzvisionär, eine Retrospektive und Bilanz 50 Jahre nach John Crankos Tod. 288 Seiten, 156 Fotos. Henschel Verlag, 2023. € 50, 40.
Fotos: Buchillustrationen / © Hannes Kilian / Stuttgarter Ballett