Belohnte Verdienste, verdienter Tadel – Lorenz
Wi-wi-wi wimmert das neugeborene Gänschen und seine Mutter, also das Lebewesen, das Martina, so wird sie genannt werden, als Mutter akzeptiert hat, antwortet mit tiefer Stimme, wie es sich gehört: Gang-gang-gang. Die Mutter wird als der Vater der Ethologie, der vergleichenden Verhaltensforschung, vor 50 Jahren den Nobelpreis erhalten. Geboren ist Konrad Lorenz vor 100 Jahren in Wien. Auf lockere Art und Weise erzählt Ilona Jerger seine Lebens- und Forschungsgeschichte.
Die Journalistin und Autorin des gerühmten Romans „Und Marx stand still in Darwins Garten“ (Ullstein, 2017) hat intensiv recherchiert und sich auch mit den Schattenseiten des Verhaltensforschers und Nobelpreisträgers Konrad Lorenz (7.11.1903–27.2.1989) beschäftigt. Authentizität gewinnt die Lebens- und Karrieregeschichte durch eine erfundene Biologin, die mit den Büchern von Konrad Lorenz aufgewachsen ist und von ihm und seinen Erkenntnissen fasziniert ist.
Konrad ist ein Spätgeborener, sein älterer Bruder war bereits 18, die Eltern hatten die Hoffnung auf ein zweites Kind bereits aufgegeben. Der Vater, Adolf, ein angesehener Orthopäde, war fast fünfzig und erhielt die Nachricht von der Schwangerschaft seiner Frau, Emma Maria, 41, in New York, wo er wie auch in Wien Kinder mit angeborener Hüftgelenksverrenkung ohne Operation behandelt hat. Natürlich wollte er, dass auch sein Zweitgeborener Arzt würde. Konrad hat brav auch Medizin studiert, den Beruf aber nicht ausgeübt. Eine Ausnahme bildeten die Jahre in russischer Gefangenschaft, wo er als Azrt tätig war und damit nicht nur die Lage vieler Verwundeten, sondern auch seine eigene verbessert hat. Doch ein Leben lang galt sein brennendes Interesse den Tieren und ihrem Verhalten. Angefangen mit einem ihm von der Mutter geschenkten Entenküken über die Graugänse bis zu den Bibern, für deren Neuansiedlung in Mitteleuropa er sich auf Anregung von Bernhard Grzimeks lautstark eingesetzt hat. Sein erster Bucherfolg, Er redete mit dem Viehe, den Vögeln und den Fischen, 1949, machten ihn auch außerhalb der wissenschaftlichen Zirkel bekannt.
Konrad Lorenz konnte pointiert erzählen und auch seine populärwissenschaftlichen Vorträge, die er bis ins hohe Alter gerne gehalten hat, fesselten Jung und Alt, zumal er sich später auch dem Tier- und dem Umweltschutz zugewandt hat. 1978 führte er die erfolgreiche Volksabstimmung gegen das Kernkraftwerk Zwentendorf an und 1985 gab er dem Volksbegehren gegen den Bau eines Wasserkraftwerks in der Hainburger Auf seinen Namen. Beide Volksbegehren waren erfolgreich. Zwentendorf wurde nicht in Betrieb genommen und die Hainburger Au ist heute ein Landschaftsschutzgebiet.
Wie Lorenz kann auch Ilona Jerger, oder ihre Ghostwriterin, fesselnd und mit humorvoller Distanz erzählen. Lorenz ist im Roman Lorenz nicht nur ein erfolgreicher, mehrfach ausgezeichneter Forscher, sondern auch ein irrender Mensch. Jerger beschränkt sich nicht allein auf das Porträt von Konrad Lorenz, sie stellt ihm Zeitgenoss:innen an die Seite, auch gegenüber, um die Konturen zu schärfen. Besonders der Philosoph Martin Heidegger und dessen Freundin, die Philosophin Hannah Arendt, haben es der Autorin angetan, aber auch eine Benediktinernonne aus dem Kloster St. Lioba in Freiburg im Breisgau, Schwester Adelgundis (die Großtante der erfundenen Erzählerin), die sich mehr für die Gedichte von Paul Celan interessiert als für die Arbeit des Tierforschers. Immer wieder blickt die Erzählerin über den Rad des privaten und öffentlichen Lebens von Konrad Lorenz hinweg, in die Welt hinein. Konrad und seine Frau Gretl, das Vieh, die Vögel und die Fische (vom Nobelpreisgeld baute er ihnen ein Riesenaquarium in seinem Geburts- und Wohnort Altenberg, Gemeinde St. Andrä Wördern) sind das Zentrum des Romans, doch sie leben inmitten anderer Menschen in einer Welt, die durch zwei Kriege geprägt ist und sind nur ein winziger Teil der Geschichte. Jerger versteht es, das kleine Puzzlestück mit und rund um Lorenz in das große Weltpuzzle einzufügen.
Um ihre Erzählform sichtbar zu machen, seien hier zwei Auszüge aus dem Roman angeführt:
In der Villa in Altenberg stellt am 22. April 1935 der Vater den Sohn beim Mittagessen zur Rede. Der Alte zieht einen Zettel aus der Jackentasche und trägt vor: 15 Seidenreiher, 32 Nachtreiher, 3 Rallenreiher, 6 weiße Störche, 3 schwarze Störche, sehr viele Stockenten, viele Hochbrutenten, Türkenenten, 2 Brautenten, 3Truthennen, 4 Hausgänse, bislang 2 erwachsene Graugänse, deren Bestand gerade um 20 ergänzt wird, 2 Mäusebussarde, ein Wespenbussard, ein Kaiseradler, sieben Kormorane, 9 Turmfalken, ungefähr ein Dutzend Goldfasane, eine Mantelmöwe, zwei Flussseeschwalben, 2 große Gelbhaubenkakadus, ein Amazonaspapagei, sieben Mönchssittiche, 20 Kolkraben, 4 Nebelkrähen, eine Rabenkrähe, sieben Elstern, weit über hundert Dohlen – 2 Eichelhäher, zwei Alpendohlen, zwei graue Kardinäle, 3 Gimpel. Von den Hunden, dem Makaken und der zahmen Ratte ganz zu schweigen ebenso von der Neubepflanzung der Beete im Park, die die Enten regelmäßig zerstören.“ (Seite 31)
Zum Abschluss eine Zitat, das auch eine Anekdote sein könnte. Der Autorin wäre es gestattet auch Anekdoten zu erzählen oder gar zu erfinden, Lorenz ist ein Roman, einfühlsam, spannend und ziemlich genau an der bekannten Wahrheit orientiert, nicht für ein Fachpublikum, sondern für interessierte Leserinnen, junge vor allem, die Konrad Lorenz nicht mehr persönlich erlebt haben. Die wissenschaftlichen, nennen wir sie, seriösen, Biografie ist von Benedikt Föger und Klaus Taschwer, erstmals erschienen 2002 bei Zsolnay. Der reiche Anhang mit Werken von Konrad Lorenz und über ihn, und auch solchen die die Autorin, Ilona Jerger, „inspiriert haben“, verweist natürlich auch auf die Ernsthaftigkeit des Romans, der Lorenz Zeitgenossinnen Aha-Erlebnisse beschert und vielleicht auch zu Tränen rührt.
Jetzt die letzten Worte des wieder und immer noch aus den unterschiedlichsten Gründen umstrittenen Tierforschers:
Dann kommt der Tod. Am 27. Februar 1989 stirbt Konrad Lorenz in der Poliklinik des 9. Wiener Bezirks, nachdem er einer Schwester, die sich rührig um ihn bemühte und ihm Luft zufächelte, gesagt hat: „Geh hearns doch auf, Schwester. Sie stören mich. Sie sehen doch, dass ich sterb.“ Seine Familie ist um ihn, er trinkt ein letztes Glas Bier und geht. (Seite 327)
Ilona Jerger: Lorenz, Roman, 336 Seiten. Piper 2023.
€ 24,70.
Benedikt Föger / Klaus Taschwer: Konrad Lorenz, Biografie, 480 Seiten. Czernin 2023,
€ 32,00.
Benedikt Föger / Klaus Taschwer: Die andere Seite des Spiegels, Konrad Lorenz und der Nationalsozialismus, 256 Seiten,
Czernin 2001, € 25,00.