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Den Tod vor Augen, die Seligkeit im Herzen

Hugo van der Goes: Das Wiener Diptychon. © KHM-Museumsverband

Gestern einen Museumsbesuch absolviert und heute schon vergessen, was ich da gesehen habe. Wichtig war’s wohl nicht. Es braucht nicht einmal 500 Stunden, um auch den Namen des Malers zu vergessen. Ob man in 500 Jahren noch von ihm sprechen wird? Von Hugo van der Goes tut man es, zumindest in Brügge und in Berlin und auch zu Hause, wenn der Zwei-Kg-Band aus dem Regal genommen wird, um sich blätternd und staunend ins imaginäre Museum zu begeben. 

Hugo van der Goes, Marientriptychon (Mitteltafel), um 1477/79. © Städel Museum, Frankfurt am MainEin Stehpult, wie es schon im Mittelalter gebräuchlich war, wäre angenehm, um davorzustehen und in die Bilder hineinzugehen. Der deutlichen Aufforderung, demütig auf die Knie zu sinken, mit den Weinenden zu trauern und mit den über deren Köpfen schwebenden Engeln selig zu lächeln, muss nicht nachgekommen werden. Die Kunst der ausdrucksstarken Malerei kann die Betrachterin begreifen, die Botschaft, die die Szenen aus dem Alten und Neuen Testament vermitteln, bleibt märchenhaft.  
 Hugo van der Goes, Bildnis eines Mannes mit Johannes dem Täufer, um 1475/80, Baltimore, The Walters Art Museum, © The Walters Art Museum, Baltimore Van der Goes – Kunsthistoriker:innen sprechen meist von Hugo, aber dürfen das auch die Laien, die wenig wissen, doch viel bewundern? –, der wichtige Vertreter der Altniederländischen Malerei, um 1440 in Gent geboren, ist schon von Albrecht Dürer in höchsten Tönen gelobt worden.  Mit 50 Jahren hat der Nürnberger Maler, geboren 1471, also 11 Jahre vor Hugos Tod  – ohne viel Federlesens erlaube ich mir die auch im Buch verwendete Vertrautheit – die Niederlande bereist und in seinen Tagebüchern vier Namen notiert: Jan van Eyck (1390–1441), Rogier van der Weyden (1399/1400–1464), Stefan Lochner (1400 bis 1410–1451) und Hugo van der Goes († 1482). Für ihn die großen Meister des 15. Jahrhunderts. An den unsicheren Lebensdaten (von der Redaktion eingefügt) merkt man schon, dass die Geschichtsschreibung über Kunst und Künstler, wenn diese überhaupt Künstler genannt worden sind und nicht nur als Meister wie Handwerker angesehen waren, nicht besonders sorgfältig war. Abgesehen von der Antike begann die Kunstbetrachtung erst in der Renaissance und es waren nur wenige, die kunsthistorische Schriften verfasstenHugo van der Goes, Geburt Christi, um 1480, © Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie / Dietmar Gunne. Erst im 18. Jahrhundert entstand die Kunstgeschichte als Wissenschaft, und erst im 19. Jahrhundert begannen Kunsttheoretiker, sich mit der Stilanalyse zu befassen. Heute füllt sie Kataloge und Kunstbände, was die von Seelenvibrationen (Wassily Kandinsky) bewegten Amateur:innen oft verschreckt, weil die eröffneten Perspektiven dem glückseligen Staunen die Unschuld nehmen.
Doch um eine Ausstellung wirksam zu vermarkten, schließlich sind bei einer Werkschau die Reisen der Bilder teurer als die der Kurator:innen, werden die genannten Vibrationen wieder hergestellt:
Hugo van der Goes, Beweinung Christi des Wiener Diptychons, um 1477/79, Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie, © KHM-Museumsverband„Den Tod vor Augen. „Hugo van der Goes: Alter Meister, neue Blicke“ hat das Musea Brugge die Sonderausstellung im Sint Jans-Hospitaal Brügge genannt. Sie hat am 5. Februar die Tore geschlossen, die Bilder sind eingepackt worden und für eine Reise nach Berlin vorbereitet. Die Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin präsentiert bis 16. Juli die Ausstellung „Hugo van der Goes. Zwischen Schmerz und Seligkeit.“
Zu dieser monografischen Ausstellung ist auch im Hirmer Verlag der umfangreiche Bildband entstanden. Bestechend wirken nicht nur die Wiedergabe der Farben und die vielen Bilddetails, die herausgehoben sind, sondern auch die Themen, die von Fachfrauen und Fachmännern beleuchtet werden. Die Texte sind publikumsfreundlich, verzichten auf kunstkennerisches Kauderwelsch und Kurator:innen-Gewäsch, doch werden spannende Geschichten erzählt, und der Maler wird dabei genauso lebendig wie seine Bilder es sind. Im Anhang gibt es zwar eine üppige Bibliografie, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, doch die Kurzbiografien der Autor:innen fehlt.
Schade. Hugo van der Goes, Hl. Genoveva, Rückseite der linken Tafel des Wiener Diptychons, um 1477/79, Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie, © KHM-Museumsverband
Die Quellen über Hugo sind dürftig. Er taucht mit etwa 27 Jahren als selbständiger Meister in Gent auf, erlangt schnell Berühmtheit, verschwindet jedoch wenige Jahre später in einem strengen Kloster nahe Brüssel. Weil seine Bilder dem Kloster Geld bringen, darf er weiter malen. Die meisten der erhaltenen Werke sind bei den Mönchen der Devotio moderna, einer Bewegung, die sich der Einkehr und Askese widmete, entstanden. Offenbar konnte Hugo das gottgeweihte Klosterleben mit seiner weltlichen Karriere nicht in Einklang bringen. Kurz vor seinem Tod hat er sein geistiges Gleichgewicht verloren, unter der Überzeugung gelitten, verdammt zu sein und wollte sich auch das Leben nehmen. Man kann nun spekulieren, ob zwischen seinen in dieser Zeit entstandenen monumentalen Ölbildern und seiKopie nach Hugo van der Goes, Kreuzabnahme Christi, um 1500/20, Neapel, Museo e Real Bosco di Capodimonte, © Museo e Real Bosco di Capodimonte, Napolinen Wahnvorstellungen ein Zusammenhang besteht. Da schließt sich die laienhafte Frage an, ob es für die Betrachter:innen des Wiener Diptychons, zu dem zwei inhaltlich und stilistisch recht unterschiedliche Bilder zusammengehängt sind, wichtig ist, ob Hugo die Bilder wohlüberlegt, nach den Regeln der Malerei oder im Wahn geschaffen hat. Die Antwort muss jede / jeder für sich selbst finden.
Das „Wiener Diptychon“ ist nicht von ungefähr erwähnt worden, der Name sagt es: Die beiden verbundenen Tafeln haben ihren Platz im Wiener Kunsthistorischen Museum. Émile Wauters (1846–1933): Der Wahnsinn des Hugo van der Goes, 1872, Brüssel, Königliche Kunstmuseen Belgiens, © MRBAB, Brussels, photo: J. Geleyns – Art PhotographyBis Mitte Juli sind „Sündenfall“ und „Beweinung Christi“ in der Gemäldegalerie in Berlin.  Auf der Rückseite der linken Tafel ist die Hl. Genoveva samt dem kleinen Teufel, der auf ihrem linken Arm sitz, zu sehen. Die Legende sagt, dass der boshafte Teufel der Jungfrau dauernd das Tintenfass geleert hat, den Engel, der es immer von neuem gefüllt hat, sieht man aber nicht. Auch die Albertina reiht sich in die Liste der Leihgeber aus Europa und den USA, allerdings nicht mit einer Zeichnung Meister van der Goes, sondern mit einem Kupferstich eines seiner Zeitgenossen. Die Ausstellungs-Kuratoren, Stephan Kemperdick und Erik Eisig, haben den Protagonisten der umfassenden Schau in seine Zeit eingebettet, ihm Vorgänger und Nachfolger beigestellt, sodass man Gusto auf noch mehr Altniederländische Malerei bekommt. Hugo van der Goes, Marientod, um 1480, Brügge, Groeningemuseum, © Musea Brugge, artinflanders.be, Foto: Dominique Provost
Zurück in die Gegenwart, in der die bildende Kunst einen anderen Stellenwert hat als vor 500 Jahren. Über den  gestern gesehenen „Palinops“ sollen Berufene urteilen. Diese werden wohl auch das vom Maler erdachte Kunstwort, „Palinops“, zugleich der Titel der Schau, samt dem korrekten Genus entschlüsseln können. Der Mops im Paletot könnte eine Assoziation sein, auch das Palindrom, ein Begriff, der das griechische Vokabel für „rückwärts laufend“ enthält. Eines der bekanntesten Palindrome hat die woke Gemeinde nun verboten. „…mit Gazelle zagt im Regen“ keiner mehr. Zuerst werden die Wörter verboten. Und danach? Schluss! Der Name Hugo van der Goes ist auch nach 500 Jahren noch präsent, und seine Bilder, die weniger von irdischer Lebenslust als von Tod und Trauer und ein wenig von himmlischer Seligkeit berichten, erregen Staunen und Bewunderung. Erst wenn die 500 Jahre neuerlich vergangen sind, wird sich weisen, welche Bilder von heute noch zu den Nachkommen sprechen werden.


 „Hugo van der Goes. Zwischen Schmerz und Seligkeit“, Cover des Bildbandes über Hugo va der Goes, zugleich Katalog der Ausstellung in Berlin. @ Hirmer VerlagKatalogbuch, herausgegeben von Stephan Kemperdick und Erik Eising. Hirmer, 2023.
Mit Beiträgen von Beiträge von M. W. Ainsworth, T.-H. Borchert, S. Buck, L. Campbell, E. Capron, K. Dyballa, E. Eising, S. Kemperdick, B. Ridderbos, G. Wedekind und anderen. 304 Seiten, 250 Abbildungen in Farbe. € 56,40.
„Hugo van der Goes: Zwischen Schmerz und Seligkeit“, Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, bis 16. Juli 2023. Geöffnet dienstags bis sonntags 10 bis 18 Uhr.
Alois Mosbacher: „Palinops“ bis 10. September 2023, Belvedere 21, Arsenalstraße 1. Geöffnet dienstags bis sonntags, 11 bis 18 Uhr, Abendöffnung donnerstags bis 21 Uhr.
Katalog: Alois Mosbacher: „Palinops“, Buchhandlung Walther & Franz König 2023. 192 Seiten, Deutsch / Englisch. € 29,80.