Für die Progressiven ist er ein lebender Skandal
Alain Finkielkraut, geboren 1949, wettert gegen den Feminismus, die Cancel Culture, gegen die Moralprotze und die Dauerempörten. Ohnehin schon lange, doch nun ist seine Essay-Sammlung „Vom Ende der Literatur. Die neue moralische Unordnung“, im Original mit dem Titel „L’après littérature“ 2021 erschienen, und man kann zustimmen oder sich empören, kalt lässt der französische Philosoph kaum jemanden. Finkielkraut, Sohn eines polnisch-jüdischen Lederwarenhändlers, der das KZ Auschwitz überlebt hat, liest sich vergnüglich, er will ein großes (natürlich vor allem französisches) Publikum erreichen und verzichtet auf die elitäre Sprache vieler seiner Kollegen / Kolleginnen.
Natürlich ist der französische Philosoph, Mitglied der Académie française und von den „Progressiven“ viel gescholten, selbst ein Dauerempörter. Die unerbittlichen Moralisten machten für ihn alles kaputt, nicht nur die Literatur und die Kathedrale Nôtre Dame, sondern die gesamte europäische Identität. Die Moral der übersensiblen woken Gesellschaft, der Multikulturalismus, die Gleichmacherei und Verallgemeinerung verrührten alles, Kunst, Kultur, Identität, die Landschaft, zu einem Einheitsbrei.
Die Kultur ist nicht mehr Auseinandersetzung mit dem Sein, sondern wird zum Ausweis der Identität, zum Ausuck der Gruppenzugehörigkeit. Ob repressiver Weißer oder Angehöriger einer unterdrückten Minderheit, jeder ist und bleibt in seinem Lager: Die Gedanken mögen noch so weit schweifen, die Werke noch so einzigartig sein, immer sind sie nur Zeugen dieser Zugehörigkeit. Der Multikulturalismus beraubt die Kunst der Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten.
Mit Zitaten hat der Belesene auch diesmal seine Aufsätze gewürzt. Neben Arendt und Proust, Balzac und Corneille zitiert er gern den linkskatholischen Schriftsteller, Dichter und vehementen Kritiker der Fortschrittsideologie Charles Péguy (1873–1914, gefallen im 1. Weltkrieg). Im Anhang sind die Nachweise sämtlicher Quellen zu finden.
Und wenn es schon ums Zitieren geht, dann auch einen Hinweis auf den Titel der Rezension, der aus einem Interview von Benedict Neff, dem Feuilletonchef der NZZ, mit Finkielkraut stammt. Veröffentlicht 2021 anlässlich der deutschen Übersetzung seines Buches „À la première personne“ mit „Ich schweige nicht. Philosophische Anmerkungen zur Zeit“ (Langenmüller)
Für die Progressiven bin ich aber ein lebender Skandal, ein Toter, der nicht weiß, dass er tot ist. Und da sage ich dann doch klar: Solange ich hier bin, melde ich mich zu Wort.
Übrigens, vor der „neuen moralischen Unordnung“ hat der Autor bereits 1979 eine „neue Liebesunordnung“ („Le nouveau désordre amoureux“) festgestellt. Muss man da als Österreicherin an den lieben Augustin denken? Ist wirklich alles hin? Finkielkraut fürchtet es:
Wir leben nicht nur unter der schrankenlosen Herrschaft der egalitären Gegenwart, sondern dies sieht sich selbst anders, als sie ist. Weil sie sich dauernd selbst belügt, verliert sie sich dauernd aus den Augen. […] In ihrem Kampf gegen die Unwahrheit ist die Kunst im Begriff, die Schlacht zu verlieren.
Vielleicht polemisiert der streitbare Franzose so feurig, damit die Schlacht der Kunst gegen die Unwahrheit doch nicht verloren geht.
Ein Geständnis: Das Kapitel über den „Schrecken feministischer Schwarz-Weiß-Malerei“ habe ich aus verständlichen Gründen nicht gelesen. Auch von Professeur Finkielkraut lasse ich mir nicht vorschreiben, wann und wie ich „die Sprache verunstalte“, indem ich alle möglichen Daseinsformen, gemeint Geschlechter, in einem Substantiv vereine. Das Lehnwort dafür ist „gendern“, auch nicht wirklich hohe Literatur, und nicht nur bei Finkielkraut höchst unbeliebt. Ich meine, LGBT und alle, die noch in dem : steckten, werden so lange drinnen bleiben, bis sie als Minderheit respektiert werden und so sein dürfen wie sie sind. Da kann Rumpelstilzchen Alain hüpfen, so hoch es will. Damit ich nicht hüpfen muss, habe ich an den betreffenden Ausführungen vorbei geblättert.
Alain Finkielkraut: „Vom Ende der Literatur. Die neue moralische Unordnung“. aus dem Französischen von Rainer von Savigny. 140 Seiten, € 22,70. LMV, 2023.