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Die Kühnheit der Bildnismalerei – Gabriele Münter

Gabriele Münter: Selbstbildnis, 19335

In Hamburg müsste man sein. Dort kann im Bucerius Kunstforum am Rathausmarkt das Werk der Malerin Gabriele Münter in neuem Licht gesehen werden. Es soll aber nicht sein. Das Klima verlangt Verzicht aufs Fliegen, das Börsel übrigens auch. Die Zugfahrt von VIE nach HH ist lang, also errichten wir unsere Kunstgalerie doch zu Hause. Das umfangreiche Katalogbuch zur Ausstellung liegt gut in der Hand, befriedigt mit Abbildungen aller ausgestellten Bilder die Schaulust und gibt genügend Lesestoff, um mehr über die so oft unterschätze Malerin zu erfahren. „Gabriele Münter – Menschenbilder“ ist vom Verlag Hirmer herausgegeben.

Gabriele Münter, was fällt der fleißigen Ausstellungsbesucherin dazu ein? Natürlich, Wassily Kandinsky! Der die abstrakte Malerei entdeckt hat und den Blauen Reiter gemalt. Gabriele Münter, 1957. © Münchner Stadtmuseum, gemeinfrei Verzeihung, das war der Franz Marc. Alles falsch. „Der Blaue Reiter“ ist ein Buch. Genau. Die Münter hat mit dem Kandinsky zusammengelebt. Gute zehn Jahre, sie war seine Muse oder vielleicht seine Haushälterin? Blödsinn. Gabriele Münter war eine Malerin und der Almanach „Der Blaue Reiter“ ist als dokumentarische Neuausgabe um wohlfeile € 18,90 in der Buchhandlung zu haben. Der Kunsthistoriker Klaus Lankheit († 1992) hat diese 1965 im Piper Verlag, der schon für die Erstausgabe, 1912, Werbung und Vertrieb übernommen hatte, herausgegeben und kommentiert. Natürlich war auch Gabriele Münter (1877–1962) am Blauen Reiter beteiligt und Bilder von ihr sind von den Herausgebern, Kandinsky und Marc, aufgenommen worden. Nur in Schwarzweiß sind sie in Erinnerung zu rufen, denn farbig waren die Malereien nur in der Luxusausgabe.Dame im Sessel, schreibend (Stenographie. Schweizer in Pyjama), 1929. Dauerleihgabe der Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung. München
Mit der Ausstellung in Hamburg und dem dazu erschienenwn Katalogbuch darf Gabriele Münter endlich aus dem Schatten Kandinskys und dem Umfeld des Blauen Reiters heraustreten. Die Biografie, Liebes- und Reisegeschichten, spielet keine Rolle, im Zentrum steht das bildnerische Werk. „Sie hatte die Energie aus sich selber! Sie brauchte keinen Kandinsky, sondern sie war selber so neugierig!“, sagt die Direktorin des Bucerius Kunstforums und Kuratorin der Ausstellung, Kathrin Baumstark, und fokussiert die monografische Schau auf Münters Bilder von Menschen, auf „Menschenbilder“. Baumstark will Gabriele Münter als zentrale Künstlerfigur des deutschen Expressionismus zeigen. Dorfkind mit Katzen, 1927. Privatsammlung Mühlheim.

Die Ausstellung „Gabriele Münter, Menschenbilder, die in Kooperation mit der Gabriele Münter- und Johannes-Eichner-Stiftung und der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München entstanden ist, gliedert sich in sechs Kapitel: Selbstbildnisse, Porträts, Kinderporträts, Figurenbildnisse, Menschen in Zeichnungen und Gruppenporträts. Jedes Kapitel ist chronologisch aufgebaut und beginnt mit Münters frühen Fotografien, welche bisher in der Rezeption meist ausgeklammert wurden. Doch diese zeigen schon in frühen Jahren ihren Blick für Menschen, Situationen und Kompositionen und ihre künstlerische und visuelle Begabung. Zusammen mit den farbintensiven Porträts in Malerei, den Druckgrafiken und Zeichnungen der folgenden Jahrzehnte lassen sich Gabriele Münters künstlerische Entwicklung und ihre Experimentierfreudigkeit nachvollziehen. Der Umgang mit Farbe und Formen, für den sie berühmt wurde, sowie ihr ausgeprägtes Zeichentalent werden ebenso sichtbar wie die Vielseitigkeit ihrer Bildsprache. (Pressetext)Bessie Allen mit Jeennie Lee, Mrs. Allen, Jerusha Allen, Marshall, Texas. 1899/1900. Fotografie. Gabriele Münterund Johannes Eicher-Stiftung, München.

Nachvollziehbar ist das auch im Katalog anhand der 79 Bilder, wenn auch die Aura des Originals, der lebendige Hauch der Kunst, das Spiel der Farben im wechselnden Licht fehlt. Doch es gibt Ersatz, weniger geeignet, um sich in die Menschenbilder zu versenken als über die Kunst des Porträts und die Bedeutung der Menschendarstellung für Gabriele Münter Gedanken zu machen. „Bildnismalen ist die kühnste und schwerste, die geistigste, die äußerste Aufgabe für den Künstler“, hat Gabriele Münter formuliert und angefügt: „Über das Portrait hinaus zu kommen, kann nur der fordern, der noch nicht bis zu ihm vorgedrungen ist.“ Bildnis Marianne von Werfekin, 1909. Cover des Bildbandes, Hirmer Verlag. @ Städtische Galerie im Lehnbachhaus und Kunstbau München, Gabriele Münter Stiftung 1957. Dass Männer, wenn überhaupt, vor allem Selbstbildnisse gemalt haben – die nackten Frauen lassen wir jetzt weg, diese Bilder sind keine Bildnismalerei im Münterschen Sinn – und Frauen für ihre Frauen- und Kinderporträts bekannt liegen, liegt ganz sicher nicht an deren Unvermögen. Eher wird das echte Interesse am Menschen, ob Mann, Frau, Kind, sein. Die einen haben es, den andern fehlt es. Was wurde Gabriele Münter damals bis heute schon alles vorgeworfen! Uneinheitlichkeit ihres Stil (bei Männern hieße das Vielfalt und grenzüberschreitend), Epigonentum und das Schwinden der schöpferischen Kraft, als kein männliches Wesen an ihrer Seite war, das sie bestätigte. Dazu noch zwei Münter-Zitate aus dem mit 1271 g mehr als kiloschweren Bildband: „Ohne Respekt vor dem Menschen ist kein wahres Bildnis möglich“ oder „Darf einer so wie ich verschieden malen?“ Ihr Werk gibt die Antwort.

„Gabriele Münter. Menschenbilder“, herausgegeben von Kathrin Baumstark, mit Beiträgen von Kathrin Baumstark, Christine Hopfengart, Isabelle Jansen, Ulrich Pohlmann, Frank Schmidt und Uwe M. Schneede. Hirmer, 2023. Inklusive Kurzbiografie und Bibliografie, 216 Seiten. € 46,30.
Die Ausstellung im Bucerius Forum Hamburg ist bis 21. Mai 2023, täglich 11–19 Uhr, donnerstags 11—21 Uhr  geöffnet.