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Gruppenbild mit sieben Frauen und einem Tyrannen

Irina Kilimnik stellt ihren Debütroman vor.

In ihrem Debütroman erinnert die aus der Ukraine stammende Autorin Irina Kilimnik an einen „Sommer in Odessa“. Erzählt wird von diesem Sommer vor dem Krieg von der Medizinstudentin Olga. Sie lebt mit der Familie, die vom autoritären Großvater beherrscht wird, in einer Wohnung in Odessa. Keine der drei Töchter und vier Enkeltöchter des Patriarchen ist glücklich, doch keine wagt es, aufzumucken. Was an der Oberfläche als fröhliche Erzählung aus der Vorkriegszeit vergnüglich daherkommt, liest sich zwischen den Zeilen als Spiegel der Gesellschaft in der Ukraine.

Das „Akademische nationale Theater für Oper und Ballett Odessa“, Wahrzeichen der Stadt, erbaut vom österreichischen Bauunternehmen Fellner & Helmer. Es ist keine Täuschung, dass das Opernhaus dem Wiener Volkstheater ähnlich sieht.   Der herrische Patriarch dirigiert das Leben seiner drei Töchter und deren Kinder. Olga, die jüngste, muss Medizin studieren, das hat die Familie, also der Opa, beschlossen, als sie sieben war. Damals hat sie ihrer Cousine Lena, die sie am wenigsten leiden kann, ein Pflaster auf eine kleine Schnittwunde geklebt. Von da an stand fest, „Olga ist unsere Ärztin“. Sie studiert unwillig, und wäre da nicht der indische Kollege Radj, der sie verehrt, mit ihr lernt und an den Strand geht, würde sie in jeder Prüfung durchfallen. In der Schulzeit hat sie Klavier studiert, gemeinsam mit Sergej. Er ist Pianist geworden, Olga wollte auch, doch sie wird nicht gefragt, Opa hat sie zur Ärztin erkoren. Auch ein Wahrzeichen der ukrainischen Stadt am Schwarzen Meer: Die Freitreppe führt mit 192 Stufen vom Hafen hinauf in die Innenstadt. © Oleksandr_Malyon_wikipedia Nur an der Oberfläche scheint diese Odessiter Familie intakt. Geht man näher heran, hört man den ständigen Streit jeder mit jeder. Selbst die Zwillinge, Alina und Natascha, sind sich nicht mehr einig. Der Tyrann leidet an einem Trauma: Ein Sohn wurde ihm versagt, alle drei Töchter, Ludmila, Polina und Svetlana, Olgas Mutter, haben wieder Töchter geboren. Die Väter sind abwesend. In der kleinen Wohnung, in der zwar jede ein Zimmer, mehr eine Kammer, hat, herrscht in den gemeinsam genutzten Räumen zu latenter Aggressivität führende Enge. Die berühmte Treppe wird, in Erinerung an den Film „Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergej Eisenstein, 1925, in dem die Treppe eine Hauptrolle spielt, auch Potemkinsche Treppe genannt. © https://odessa.nemohotels.com/de/ueber-odessa/Großvater ist auch Chef in der Küche, wo er ständige neue Rezepte ausprobiert und die Töchter herumscheucht. Olga flieht mit ihrem Studienkollegen gern an den Strand. Radj ist verliebt, doch Olga braucht den fleißigen Studenten nur als Freund. Er versucht, sie zu küssen, sie gibt ihm den Laufpass, denn man hat ihr erzählt, dass Sergej, der fesche Sergej, ihr engster Freund aus den Tagen in der Musikschule, wieder in Odessa ist. Olga umschwirrt ihn, will nicht sehen, dass er ein leichtlebiger Dandy und Frauenheld ist. Im Grunde ist sie noch nicht erwachsen. Dazu braucht es einige einschneidende Ereignisse in dieser von dienenden Frauen mühsam zusammengehaltenen Familie. Die heile Welt hat Risse, doch noch sind sie nicht sichtbar. Eingang zum Hauptgebäude der Universität in Odessa, wo Olga gegen ihren Willen Medizin studiert. ©  Alexostrov / wikipedia Fast zur Familie gehört auch Olgas Busenfreundin Mascha, ein wildes, freiheitsdurstiges Mädchen, in deren Eltern sich die Risse in der odessiter Gesellschaft widerspiegeln: Der Vater ist ein Putin-Verehrer und will ein Russe sein; die Mutter ist mit Leib und Seele Ukrainerin und will sich von ihm trennen. Mascha ist unglücklich. Olgas Großvater bleibt stur ein Altkommunist, von der neuen Liberalität hält er nichts.
Der erste Riss in diesem scheinheilen Familiengefüge tut sich auf, als zu Opas Geburtstag sein bester Freund, David, aus Amerika zu Besuch kommt. Bald vergiftetet ein Geheimnis zwischen den beiden alten Männern die Atmosphäre. Die Orthodoxe Kirche auf dem Domplatz. Sie spielt im Leben von Olga keine Rolle. © odessa.nemohotels.comAllgemeine Nervosität macht sich bemerkbar. Ludmila, die älteste Tochter, hat sich einer Sekte angeschlossen, die ihr Respekt und Wärme gibt, wagt es aber nicht, die Familienwohnung zu verlassen. Olga blitzt bei Sergej ab und Freundin Mascha möchte als Au-pair zu einer Familie nach Berlin reisen. Die Mauern wackeln, und als die Familiendatscha am Meer, in die man im Sommer ziehen muss, auch wenn man gar nicht will, und wie Olga lieber mit dem versöhnten Radj am Lanzheron-Strand sitzt, auch noch abbrennt und das Familienalbum samt allen Papieren, die Opa immer aus dem Haus schleppt, vernichtet ist, stürzt das mühsam erhaltene Gebäude endgültig ein. Nicht nur Olga fühlt sich befreit. Der Lanzheron-Strand, Olgas Lieblingsstrand, auch wenn er meist überfüllt ist. © https://odessa-life.od.ua/Die Geheimnisse sind aufgedeckt, Freund David kann wieder heimreisen, Mascha bleibt einstweilen in Odessa, um ihren Freund zu bewachen und Olga hat eingesehen, dass Sergej ein Jugendfreund ist, nicht mehr. Olga sitzt mit Radj an ihrem Lieblingsstrand und feiert, dass sie hinter das Medizinstudium einen Schlusspunkt gesetzt hat.
Der Leserin bleibt ein ungutes Gefühl, denn sie weiß, was bald passieren wird. Russische Raketen greifen (nicht nur) Odessa an. Die Entscheidung, bleiben oder fliehen, fällt schwer. Die Odessiter wollen ihre geliebte Heimat nicht verlassen. „Sommer in Odessa“, Buchumschlag. © Kein & AberOlga ist erwachsen geworden, sie wird Verantwortung übernehmen und über ihr Leben selbst entscheiden. Doch die Erinnerungen an den letzten Sommer in Odessa, im Haus der Frauen und des Tyrannen wird sie behalten.
Irina Kilimnik wurde 1978 in Odessa (Ukraine) geboren und kam mit fünfzehn Jahren nach Deutschland, wo sie später Humanmedizin und Mediapublishing studierte. Sie ist die Autorin zahlreicher Essays, Buchrezensionen und Kurzgeschichten, war Teilnehmerin am 18. Klagenfurter Literaturkurs und wurde beim MDR-Literaturwettbewerb mit zwei Preisen ausgezeichnet.
Mit ihrem Debütroman beweist sie ihr Talent, zu erzählen, lebendige Charaktere zu gestalten und ihre Gabe, Ernsthaftigkeit mit Humor zu würzen.

Irina Kilimnik: „Sommer in Odessa“, Kein & Aber, 2023. 288 S., € 24,70. E-Book: € 18,99.