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Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten

Gruppenbild mit Autor. Links Jean Erdman, rechts Joan Halifax.

Der Autor und Mythenforscher Joseph Campbell (1904–1987) ist im anglo-amerikanischen Sprachraum immer noch eine anerkannte Größe. Im deutschsprachigen ist er weniger bekannt, dennoch gibt es seit dem Erscheinen des Originals „The Hero with a Thousand Faces“, 1949, mehrere Übersetzungen.. Nun ist im Insel-Verlag wieder eine gebundene Ausgabe des 500 Seiten starken Originals, über den Heros in allen Kulturen, in Mythen, Sagen und Religionen erschienen. Sich ohne wissenschaftliche Notwendigkeit durch „die tausend Gestalten“, die immer die gleichen sind, zu beißen, verlangt einen Sonderurlaub. 

Odysseus, Vorbild für viele Helden auf Reisen. Foto: https://troja.fandom.com/de/wiki/OdysseusEine Pointe, die mir gefällt: Der Übersetzer der aktuellen Ausgabe, Michael Bischoff, ist im Jahr des Erscheinens der ersten englischen Ausgabe geboren. Dass das Deutsch so schwerfällig, tranig und altbacken klingt, ist deshalb verwunderlich. Aber ich kann nicht sagen, wie sich das Original liest. Jedenfalls ist alles, was damals, kurz nach Ende des 2. Weltkriegs, neu war, überholt und durch neuere Texte, von Claude Lévi-Strauss über Hans Blumenberg bis Roland Barthes ersetzt. Noch immer gilt Campbells Werk, in dem er sich auf die Tiefenpsychologie C. G. Jungs (1875–1961) beruft, als Standardwerk und man darf es loben, weil Campbell sich nicht auf die westliche Welt allein konzentriert, sondern sich mit Mythen auf der ganzen Welt befasst. Das Aino-Tiptychon zeigt eine Szene aus dem finnischen Nationalepos „Kalevala“: Aino flieht vor den Annäherungsversuchen Väinämöinens und entschließt sich, lieber (im Wasser) zu tserben als sich dem Vergewaltiger zu ergeben. © Illustration von Akseli Gallen-KallelaAllerdings vermischt er Mythos und Religion und bezieht auch von der Literatur erschaffene mythische Erzählungen, wie das finnische Epos Kalevala, das Elias Lönnrot 1835 seinen Landsleuten geschenkt hat, in seine Untersuchungen ein. Es geht darum, eine These aufzustellen und dann nach Beweisen zu suchen. Also werden nur die Beweise, die in diese These passen, aufgenommen. Beispiel: Die These ist: Mond wird durch eine Göttin repräsentiert, Sonne durch einen Gott. Wird, wie in der sumerischen Überlieferung, ein Mondgott gefunden, lässt man diesen einfach unter den Tisch fallen. Mythenforscher Claude Lévi-Stauss, 2005. Er gilt als Begründer des Strukturalismus. Lévi-Strauss ist mit 101 Jahren 2009 in Paris verstorben.
Die elementaren Gedanken in allen Kulturen seien einst, lebenswichtige Orientierungshilfen im Leben jedes Menschen gewesen. Weil wir diese heute nicht mehr notwendig hätten, plädiert Campbell für die Schaffung neuer überzeugender Mythen. Dieser Anspruch erscheint mir drollig – soll sich einer / eine oder eine Arbeitsgruppe hinsetzen und einen brauchbaren Mythos (eine von allen Menschen angenommene Geschichte) erfinden? Ich meine, wir brauchen keine neuen Helden, wir brauchen überhaupt keine Helden. Kachina des Hopi-Mondgottes Kookopölö und seiner Frau, Kokopölmana,  gezeichnet 1903 vom Hopi-Künstler Jesse Walter Fewkes.   Für Campbell drücken Helden-Mythen (und nur auf diese bezieht er sich) normale Entwicklungsaspekte der Persönlichkeit aus. Der männlichen Persönlichkeit, denn der Heros, von dem Campbell spricht, ist männlichen Geschlechts. Die Frau, als Göttin maskiert, besitzt zwar das Wissen der Welt, sie ist inaktiv, mitunter sogar böse. Selbst wenn sie nach Erkenntnis ringt wie Eva im Paradies wird sie nicht zur Heldin ernannt, obwohl wir ohne sie noch immer zwischen Kraut und Rüben, Fuchs und Has’ eingesperrt wären. Der Rückzug und das Wieder-Auftauchen (Auferstehen) gehören zur Heldenreise. Im Bild: Wappen des deutschen Humnisten und Reformators Justus Jonas (1493–1555), der sich selbst auf der Heldenreise in den Bauch des Wals darstellen ließ. © gemeinfrei. Eingestellt in wikipedia von Torsten Schleese. Universitätsmatrikel in Erfurt Justus Jonas auf einem Gemälde.Diese Göttin, die dem Heros den finalen Schubser ins Erwachsenleben gibt, ist keine Heroine, keine Heldin, scheint es. Wobei der Heros auch nicht immer ein – was heißt, „nicht immer“, eher sollte ich sagen, „meistens kein“ – wahrer Held ist. Der Heros der Mythologien ist keineswegs mit dem deutschen Begriff Held, ausgezeichnet durch Tapferkeit und Opferwille, gleichzusetzen. In der Literatur ist mit dem Helden gemeinhin lediglich die Hauptfigur gemeint, auch wenn diese Figur in Wahrheit ein Antiheld ist. Das gilt wohl auch für den Heros im Mythos.
Das zentrale Thema in Campbells Ausführungen, die „Heldenfahrt“, von der in allen Kulturen in unterschiedlicher Ausprägung erzählt wird, ist ebenso Gegenstand von Psychologie und Psychotherapie wie der Populärkultur, vor allem des Hollywood-Kinos. In jüngster Zeit hat sich auch die christliche Religion (von Campbell unterschwellig als die einzig richtige bezeichnet) und die Esoterik der Metapher der „Heldenreise“ bemächtigt. 
Perseus, der tapfere Held mit dem Haupt der Medusa. Bronze von Benvenuto Cellini, Florenz, Loggia dei Lanzi, 1554. Gemeinfrau / Jaatrow / wikipedia Das Menschenbild Campbells ist heute nicht mehr aufrechtzuerhalten, auch dass er häufig von „primitiven“ Kulturen oder Religionen spricht, weist auf Entstehungszeit des Werkes hin. In manchen Sätzen zeigt sich Campbell weniger als Wissenschaftler denn als moralisierender Romantiker im Gefühlsüberschwang.

Nicht die Gesellschaft hat den Helden zu leiten und zu erretten, sondern genau umgekehrt. Und so leidet denn jeder von uns die größten Qualen – trägt das Kreuz des Erlösers – nicht in den glanzvollen Augenblicken der großen Siege seines Stammes, sondern in der Stille seiner persönlichen Verzweiflung.

Hugh, Campbell hat gesprochen – seinen letzten Satz vor dem Anhang . Die Rezensentin schmunzelt. In diesem Sinn ist Campbells Werk nur noch als historisch zu betrachten, als Premiere der vergleichenden Mythenforschung. Bevor man sich an diesem überholten Werk abarbeitet, könnte das Heldinnenepos von Anne Weber gelesen werden. Für mich das Buch der Jahre 2020–2022, nichts Schönere, Besseres und Wertvolleres habe ich bis heute  gelesen.

Schutzumschlag der aktuellen Ausgabe von „Der Heros in tausend Gestalten“. © Unsel VerlagJoseph Campbell: „Der Heros in Tausend Gestalten“, aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff, Insel Verlag 2022.  527 Seiten, inklusive zahlreicher Abbildungen und eines reichen Anhangs. € 32,90
Anmerkung des Verlages: Diese Ausgabe wurde von der Joseph Campbell Foundation (JCF) im Rahmen der von Robert Walter und David Kudler herausgegebenen „Collected Works of Joseph Campbell“ erstellt.
Titelbild: Der Mythologe Joseph Campbell, aufgenommen Ende der 1970er Jahre auf der Feathered Pipe Ranch in Montana. Links von ihm seine Frau, die Tänzerin Jean Erdman; rechts die Anthropologin Joan Halifax.
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