Anne Weber: „Annette, ein Heldinnen-Epos“
Die Heldin, der Autorin Anne Weber ihr fantastisches Epos gewidmet hat, wird demnächst 97 Jahre alt, lebt in Frankreich und ist auch in der vielsprachigen Online-Enzyklopädie Wikipedia zu finden. Ganz sicher hat sich Anne, in der Familie Annette genannt, Beaumanoir nicht selbst hineingeschrieben. Sie hatte anderes zu tun. Mit viele Liebe und Poesie hat Anne Weber sie zur Hauptperson ihres jüngsten Buches gekürt.
Ob Annette, so nennt sie Weber, nur Annette, ohne Familiennamen, tatsächlich eine Heldin ist, auch wenn sie immer wieder heldenhaft gehandelt hat, kann Anne Weber ebenso wenig beantworten wie die Fragen, wann der gerechte Kampf für Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit aufhört und der Terrorismus beginnt, welche Motive hinter Protest, Widerstand und Rebellion zu finden sind. Jedenfalls ist Annette keine Heldin wie andere Helden, von denen berichtet wird, wie auch Webers Epos kein Epos wie andere Epen ist. Andere Helden prahlen (oder lassen prahlen) mit der Zahl der Köpfe, die unter ihrem Schwert oder auf ihren Befehl gerollt sind. Annette prahlt nicht, tötet nicht, sondern rettet Leben, versucht auch die Freiheit und Gerechtigkeit zu retten, oder wenigstens wiederzufinden. Deshalb erzählt ihre Biografie, geprägt von Widerstand und Verrat, von Flucht und Gefängnis, vom Leben in Exil und dem Verlassen der Familie. In den wenigen Jahren der Ruhe hat sie Medizin studiert, geheiratet, drei Kinder bekommen. Dann musste sie untertauchen, weil sie als aktives Mitglied der FLN, der Nationalen Befreiungsfront (von der französischen Kolonialherrschaft), zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Als Frankreich die ehemalige Kolonie in die Selbständigkeit entlassen musste, hat sie in Algerien das Gesundheitswesen aufgebaut. Nach dem Militärputsch wurde sie Persona non grata, musste wieder fliehen und wartete in Genf als Leiterin der Neurologischen Klinik ihre Amnestie in Frankreich ab. Anne Beaumanoir lebt nun in
Dieulefit, auf Deutsch Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreichs.
Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie.
Falls es ihn gibt, hat er sie gemacht.
So endet der erste Absatz in Anne Webers Heldinnenlied, das von Annette Beaumanoir erzählt, aber viele Heldinnen meint, ihnen Anerkennung zollt, doch zugleich das Heldentum in all seinen Facetten in Frage stellt. Ganz sicher ist das Heldinnen-Epos keine Glorifizierung der Heldin und auch keine Biografie von Anne Beaumanoir. Zwar hält sich die Autorin an die 2009 veröffentlichte Autobiografie Beaumanoirs „Le feu de la mémoire“ (Deutsch: „Wir wollen das Leben ändern“) und auch an deren mündlicher Erzählungen. Weber hat die Ärztin bei einer Veranstaltung mit anschließendem Abendessen kennengelernt und war vom Blitz getroffen, vom Sympathie- oder gar vom Liebesblitz. Daraus entstand das Heldinnen-Gedicht, das zwischen Erdachtem und Erzähltem und Belegtem jongliert und mehr Fragen enthält als Behauptungen. Zum Beispiel wieso der Drang die Welt zu verbessern, so oft mit Verblendung einhergeht, sodass die Heldinnen meinen, alle hätte die gleichen hehren Motive, strebten nicht nach Macht und Geld, sind keine Verräter oder nur von Hass angetrieben. Oder, was treibt die Revolutionäre, die aus Überzeugung gegen Gefangenschaft und Folter agieren, später selbst Gefängniswärter und Folterknechte zu werden.
So schön ist dieses Epos verfasst, dass ich am liebsten jeden Satz zitieren würde. Geht nicht, es sind immerhin mehr als 200 Seiten. Aber laut lesen ist möglich, um den Fluss der Sätze zu genießen. Schon die erste Begegnung mit dem schmalen Band entzückt und lässt noch einmal dieses „Nicht wie andere“ auftauchen. Weber schenkt den Leserinnen ein Gedicht, und dass muss besonders gesetzt werden, so ist allein das Betrachten der Hardware, das Betasten von außen und Blättern im Inneren ein sinnliches Vergnügen. Speziell gesetzt als ungereimtes Gedicht, ein knallroter Einband – „Le feu de la mémoire“ / „Das Feuer der Erinnerung“ – umhüllt den kostbaren Text. Im Hintergrund schimmern silbern die Umrisse eines Frauenkopfes. Ein spezielles Buch, eine spezielle Geschichte, zwei spezielle Geschichten, die echte, von Anne Beaumanoir erlebte und die andere, ebenso echte, von Anne Weber geschriebene. Nicht nur in der deutschen Ausgabe verblüfft Webers mutiger und origineller Umgang mit Wort und Schrift, sie turnt auch auf Französisch über Konventinoen und Regeln hinweg. Seit geraumer Zeit in Paris lebend, schreibt sie ihre Werke in beiden Sprachen. Das Heldinnenlied hat also einen Zwilling: "Annette, une épopée", im Untertitel, "De la Résistance au fin. Une histoire française" / Von der Resistance zum Ende", ist eine französische Epoche prägnant zusammengefasst.
Man schaut zurück – Annette selbst steht
neben sich und schaut zurück aus weiter Ferne –
und glaubt da etwas zu durchschauen, was früher noch
im Nebel lag. Dank unseres Wissen über das, was
längst vergangen ist, aber für Damalige noch in der
Zukunft liegt, glauben wir uns befähigt mitzureden,
den Kopf zu schütteln, anzuprangern. Für den, der
mittendrin ist, liegen die Wege allesamt im Nebel.
Anne Weber:
„Annette, Ein Heldinnen-Epos“, Matthes & Seitz, 2020. 208 S. € 22,70.
"Annette, une épopée", Éditions du Seiul, 2020.
Anne Beaumanoir:
„Wir wollten das Leben ändern“ übersetzt aus dem Französischen von Gerd Stange, Edition Contra-Bass, 2 Bände, 2019 / 2020, Band 1: „Leben für Gerechtigkeit, Erinnerungen 1923 bis 1956“, 208 S. € 15,50.
Band 2: „Kampf für Freiheit, Algerien 1954 – 1965“, 232 S. € 16,50.