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Lieber Serienermittlerinnen als Serienmörder

Autorin mit Feingefühl: Katrine Engberg © Les Kaner / Diogenes

Schon immer war der gute Kriminalroman, richtig gelesen, ein Spiegel der Zeit, der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, der Nöte und Freuden der Menschen. Großartige Autorinnen verpacken ihre Analyse der herrschenden Verhältnisse in eine Kriminalhandlung, um die Scheinwerfer aufzudrehen und die Sinne ihrer Leserinnen zu schärfen. „Ein notwendiger Tod“ von Anne Holt und „Wintersonne“ von Katrine Engberg sind Beispiele für fundierte Kriminalromane, die Exemplarisches über die Welt und die darin Lebenden aussagen.

Erfolgsautorin Anne Holt schickt die neue Detektivin Selma Falck nackt in die Wildnis. © Hanna Kristin Hjardar /  vg.noDie Norwegerin Anne Holt, 65, ist seit Jahren ein leuchtendes Beispiel für ihre als Krimi getarnten gesellschaftlichen Analysen. Die Dänin Katrine Engberg, 48, leuchtet in ihren Krimis das Innenleben ihrer Protagonist:innen aus, benützt ein Mikroskop, wenn Holt durch ein Teleskop blickt. Anne Holt, die mit der Ermittlerin Hanne Wilhelmsen die Bestsellerlisten in aller Welt erobert hat, stellt eine neue Ermittlerin vor. Hanne, eine eigenwillige, doch durchaus sympathische Person, hat irgendwann genug und die Autorin wohl auch. Hanne ist durch eine Schussverletzung gelähmt, sitzt im Rollstuhl, wird grantig und verbittert. In Band 9 und 10 unterstützt sie als pensionierte Kommissarin noch zweimal einen Kollegen, doch dann ist endgültig Schluss, nach zwei Jahren Pause präsentiert Anne Holt in "Ein Grab für zwei" die ehemalige Rechtsanwältin Selma Falck, die ihre Leidenschaft im Aufklären von Verbrechen findet. Noch ein letztes Wort zu Hanne Wilhelmsen: Sie ist lesbisch und lebt mit einer Frau zusammen, das war 1993 als der erste Fall, „Blind Gudinne“ („Blinde Göttin“, übersetzt von Gabriele Haefs, 1995. Letzte Auflage: Piper TB, 2002) erschienen ist. Das Rathaus von Oslo, auch dort liegen Leichen im Keller. Da wusste man gleich: Eine mutige Autorin stellt sich vor. Und mutig watet Anne Holt auch im 2. Band mit Selma Falck durch einen Sumpf von Machtgier und Korruption in Norwegen. Dieser stinkende Sumpf ist in jedem anderen Land genauso zu finden. „Furet / Værbitt“ ist der Originaltitel des Romans, was etwa „zerfurcht und verwittert“ bedeutet. Weniger die Qualen, die Selma Falck, entführt, gefoltert, tagelang ums Überleben kämpfend, erleidet, machen den Roman zu einer Horrorgeschichte, als vielmehr die Zustände in Politik und Gesellschaft, die Holt beschreibt. Sie liegt mit ihrer Analyse so nah an der Realität, dass sie Fakten und auch Personen aus der norwegischen Politik einbaut. Deutlich zeigt Anne Holt auf, wie sich die ethischen Normen verschieben und die Demokratie mutwillig gefährdet wird. Das königliche Schloss in Oslo. Die Königsfamilie hat mit der geschilderten politischen Entwicklung nichts zu tun.
Engberg ist schon beim 5. Band ihrer Reihe mit der Mordkommission in Kopenhagen, an deren Spitze Jeppe Kørner arbeitet. Er hat nun genug von Mördern und Opfern, zieht sich auf die Insel Bornholm zurück und arbeitet als Holzfäller. Engberg hat schon in ihrem Debüt, „Krokodilwächter“, 2018, neben der genauen Charakterisierung der Frauen und Männer im Kommissariat auch weitere Personen eingeführt, die sie konsequent weiterentwickelt. So weit, dass der Pensionist Gregers Hermansen nach einer langen Erkrankung sterben muss. Seine Nachbarin und Freundin, Esther de Laurenti, die schon einen ihrer beiden geliebten Möpse verloren hat, kommt mit dem Verlust nur schwer zurecht. Sie landet wie Jeppe, mit dem sie seit seinem ersten Fall befreundet ist, auf Bornholm. Eine Überraschung für beide. Der Paradieshügel auf Bornholm, fotografiert von Hans Peter Balfanz. © Wikipedia, CCAn Überraschungen ist dieser 5. Band mit Kørner und Werner  (Annette, die zitternd und zagend die Ermittlungen leiten muss, Kørner Bäume zersägt und ihr Mann die kleine Tochter hütet) keineswegs arm. Die Lösung des komplizierten Falles, der mit der Hälfte eines zersägten Mannes in einem Koffer seinen Anfang nimmt, erschüttert Jeppe Kørner wie seine Kollegin Anette Werner. Und Esther muss nach einer umwerfenden und auch beglückenden Erkenntnis ihr Leben neu ordnen. Um darüber zu erfahren, muss man schon bis zum Ende durchhalten, doch es zahlt sich aus.
Um die Politik geht es bei Engberg weniger als um die Abgründe der menschlichen Seele, um mangelnde Zuwendung und Liebe, wodurch Menschen zu Monstern werden, um die Einsamkeit, die nicht nur Jeppe Kørner im kalten Griff hat. Die dänische Ausgabe trägt den Titel: Isola / Insel und am Ende ist sowohl Esther als auch Jeppe klar: Niemand ist eine Insel, Menschen brauchen Menschen. Eine Drohne hat Kopenhagen, wo Engberg ihre Krimiserie angesiedelt hat, fotografiert. © Foto: cucumbreLibre, wiki, via Flickr.Engberg gewinnt von Roman zu Roman mehr Souveränität in Stil und Dramaturgie. Wie sie ihre Personen mit Feingefühl führt und entwickelt, wie sie die einzelnen Fälle aufbaut, wie sie klarmacht, dass alles mit allem zusammenhängt und das Bild der Welt aus vielen Schattierungen besteht, möchte ich genial nennen. Auch wenn Holt und Engberg keine Angst vor Blut und splitternden Knochen haben, so verblasst in „Ein notwendiger Mord“ der Bericht vom Mordversuch an Selma Falck und ihr Kampf auf dem norwegischen Plateau Hardangervidda, gegenüber dem politischen Geschehen. Nördliche Hardangervidda nach dem ersten Schnee im September, auch Falck muss die Hochebene am Winterbeginn queren. © Michael Haferkamp / wikipedia, CCDie Leserin weiß, Selma ist eine Serienheldin und diese gehen nicht schon in der 2. Folge unter. Die spannende Handlung findet ein paar Monate vor ihrer Entführung, im Frühjahr 2018, statt. Was Selma auf der größten Hochebene Europas erlebt, bremst in der Ausführlichkeit des Überlebenskampfes die Neugier der Leserin auf den Kern der spannenden Erzählung. Vielleicht lässt mich Selmas Schicksal ja auch kalt, weil sie keine besonders sympathische Person ist, Hanna Wilhelmsen hat sich selbst als unfreundliche Kommissarin in Pension etwas Liebenswertes bewahrt. Anne Holt: "Ein notwendiger Tod", Buchcover,  © Atrium VerlagÜberdies: Serienheld:innnen, ob Jeppe in Kopenhagen oder Selma in Oslo, sind in der Überlebenskunst geübt, stolpern nackt über die Hardangervidda oder rennen mit gebrochenem Knöchel und eingeschalteter Motorsäge am Meeresufer entlang. Serienheld:innen sind unbesiegbar, auch wenn sie einige Blessuren ertragen müssen. Zum Glück ist weder die Hobbyermittlerin Falck in Oslo noch die Mordkommission in Kopenhagen schon am Ende, und außerdem: Katrine Engberg: "Wintersonne", Buchumschlag. © Diogenes VerlagAnne Holt wie auch Katrine Engberg sind überaus fleißige Autorinnen und haben sicher nicht alle Geschichten, so unterschiedlich sie sind, bereits erzählt. Am Ende von „Wintersonne“ gibt es einen Teaser: Jeppe rafft sich auf und läutet bei der „Liebe seines Lebens“. Wer nur diesen Band gelesen hat, weiß nicht so genau, wer diese Liebe ist und kapiert auch die Tragweite von Esthers Geheimnis nicht so ganz. Dennoch stolpert niemand über Lücken, wenn mit irgendeinem der fünf Kopenhagen-Romane der Anfang gemacht wird. Sorgsam hat die Autorin mögliche Löcher gestopft, sodass Neulinge mit allem nötigen Wissen versorgt sind und Engberg-Getreue nicht gelangweilt werden.

Anne Holt: „Ein notwendiger Tod“, „Furet / Værbitt“, übersetzt von Gabriele Haefs. Atrium, 2022. 431 S., € 22,70. E-Book: € 17,99.
Katrine Engberg: „Wintersonne“, „Isola“, aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Diogenes, 2022. 369 S. € 22,70. E-Book: € 18,99.