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Bahnhofstreffen: Kurz begegnet, rasch getrennt

In Frankreich bekannt und renommiert: Éliette Abécassis.

Éliette Abécassis, geboren 1969 in Straßburg, ist eine französische Schriftstellerin, Regisseurin und Drehbuchautorin, zwischendurch schreibt sie auch in Modezeitschriften. Ihr erster Roman, „Qumran“ ist 1996 erschienen und sofort übersetzt worden. Seitdem hat sie nahezu jedes Jahr ein neues Buch veröffentlicht. Warum ausgerechnet die 2003 erschienene kleine Geschichte „Clandestin“ unter dem unpassenden und hölzernen Titel „Eine unwahrscheinliche Begegnung“ jetzt übersetzt worden ist, bleibt ein Rätsel.

Gar nicht zufällig trifft Er Sie im Bahnhof, Er hat sie gesucht. Vermutlich hat sich der Schweizer Arche Literaturverlag an den Erfolg von Abécassis 2020 erschienenen Roman „Nos rendez-vous“ angehängt. 2021 übersetzt, verwandelten sich die 140 Seiten von „Unsere Rendez-vous“ in „Mit uns wäre es anders gewesen“. In die Zeit passt auch das Thema in „Clandestin“ (ein Clandestin ist ein blinder Passagier, ein Flüchtling, ein Illegaler; als Adjektiv bedeutet clandestin/clandestine heimlich, geheim, illegal). „Unwahrscheinlich“ ist jedoch eine Begegnung im Zug oder im Bahnhof niemals.
In einer Kirche, in der sich Flüchtlinge versammelt hatten, haben Sie und Er einander zum ersten Mal gesehen. © radio canada.ca Sei’s drum, über das französische Original kann ich mangels Kenntnis nichts sagen, doch die deutsche Übersetzung ist reichlich unbeholfen. Ein namenloser Mann reist ohne Papiere mit dem Zug. Er verschaut sich in eine ebenso namenlose Frau, erinnert sich, dass er sie schon einmal gesehen hat, in einer Kirche, die von Flüchtlingen besetzt war, jetzt will er sie näher kennenlernen, sie verführen, „vor Mitternacht würde sie ihm gehören“, lässt ihn die allwissende Erzählerin träumen.
Fast wird er ohne Fahrschein erwischt, entkommt dem Schaffner jedoch, doch er meldet ihn in der Endstation der Polizei. Alle Passagier:innen steigen aus, er hält sich in der Nähe der Unbekannten, und als zwei Polizisten auf ihn zuschreiten, beschließt sie, ihm zu helfen. Die beiden, immer nur „er“ und „sie“ genannt, nähern sich an. Auch sie beginnt von einer Nacht mit ihm zu träumen, doch das offene Ende ist von Anfang an klar: Am Ende gehen sie getrennte Wege, in der kurzen Begegnung haben sie nicht viel voneinander erfahren. Die Leserin übrigens auch nicht. Die beiden namenlosen Figuren bleiben Schatten, konstruierte Figuren, unglaubwürdig und eindruckslos. Sie, wird immer wiEin Kind hat sich verlaufen und gesellt sich zu den beiden, die Eltern holen es bald ab. © olis-bahnwelt.deeder betont, hat lange Beine, helles Haar und ist makellos gekleidet. Er ist genau das Gegenteil, „ziemlich groß, braune Haare, blaue, stechende Augen, hohe Backenknochen, hohle Wangen. Er sah eigenartig aus.“ Und ein paar Zeilen danach„nimmt er geschmeidig das Gepäckstück heraus“, weil sie, „flink und trittsicher“, es nicht schafft den Koffer aus dem Zug zu heben.Cover der deutschen Ausgabe von "Clandestin" ("Eine unwahrscheinliche Begegnung"). © Arche Literatur Verlag Genug der Zitate, wäre die Autorin nicht die berühmte Éliette Abécassis, Tochter des bekannten Schriftstellers und Philosophie-Professors in Bordeaux, Armand Abécassis, geboren 1933 in Casablanca und als sephardischer Jude auch Spezialist für jüdisches Denken, würde diese Herz-Schmerz-Konstruktion wohl nicht auf die Shortlist für den Prix Goncourt gekommen sein.
Es ist nicht verboten, zwischen erfolgreichen und zu Recht gelobten Werken auch einmal ein schwaches vorzulegen, und der schmale Band eignet sich hervorragend für eine Lektüre am möglichen Ort des Geschehens, vielleicht in umgekehrter Reihenfolge: Auf dem Perron, während man auf den Zug wartet und dann im Zug, dem eigenen Ziel entgegen reisend. Danach darf das Buch ruhig im Zug bleiben.

Éliette Abécassis: „Eine unwahrscheinliche Begegnung“, „Clandestin“, aus dem Französischen von Kirsten Gleinig, Arche, 2022. 122 Seiten. € 19,60. E-Book: € 14,99.