Anne Holt: „Ein Grab für Zwei“, Kriminalroman
Die beliebte norwegische Autorin Anne Holt hat eine neue Ermittlerin geschaffen, doch die Polizei von Osslo bekommt keinen Zuwachs, die Neue, Selma Falck, ist Rechtsanwältin und kommt zu ihrem ersten Fall eher ungewollt. „Ein Grab für zwei“ wird unter Sportler:innen und Funktionäre gegraben, ob aus Eifersucht oder Rache, Geldgier oder womöglich wegen Dopingsünden, ist auch der ermittelnden Selma Falck lange Zeit unklar.
Das Gefühl, die erfahrene und überaus erfolgreiche Autorin muss sich erst warm schreiben und sich an ihr neu ins Leben gerufene Personal gewöhnen, ist nicht zu unterdrücken. Der Anfang schleppt sich dahin, zumal wenn Funktionärsstreiterein und Dopingverdacht nicht der Leserin Hauptinteresse gilt. Viele Jahre hat Anne Holt die sympathische Ermittlerin Hanne Wilhelmsen begleitet, und mit zehn Bänden nicht nur Morde behandelt, sondern auch gesellschaftliche und private Probleme aufs Tapet gebracht. Doch mit Selma Falck kann ich mich nicht wirklich anfreunden, und alle die sie antreiben oder auch bremsen in ihrer Suche nach den Schuldigen, sind auch nicht wirklich zum Liebhaben. Einzig die eigentliche Hauptperson des Romans, Hege Chin Morell, Norwegens Ass im Schilanglauf, weckt Sympathie und Neugier. Doch die von einem skrupellosen Millionär adoptierte Chinesin spricht fast nichts, und ist selten sichtbar. Nachdem in ihrem Blut Clostebol, eine Substanz, die in Heilsalben vorhanden ist, aber als Dopingmittel auf dem Index steht, gefunden worden ist, steht die junge Frau unter Druck. Sie hat keine Ahnung, wie das Clostebol in ihr Blut gelangt ist und vermutet, dass ihr jemand schaden und ihre Teilnahme an den bald in Pyeongchang / Südkorea stattfindenden Olympischen Winterspielen verhindern will.
Die Geschichte spielt knapp vor Weihnachten 2017 in Oslo, und Leserinnen der Sportseiten werden sich an die reale norwegische Langlaufikone Therese Johaug erinnern, die 2018 tatsächlich auf die olympische Wettbewerbe verzichten musste, weil sie vom Verband zu dieser Zeit gesperrt worden war. Clostebol war im Blut. Wie in Holts Roman geschildert, war es in einer Lippensalbe enthalten, der Teamarzt hatte sie ihr verschrieben, ohne sich um die enthaltenen Substanzen zu kümmern. Anne Holt hat den Skandal um Johaug zum Anlass für ihren Roman genommen, hat doch ganz Norwegen an der Verurteilung der beliebten Sportlerin Anteil genommen. Immerhin gehören die nordischen Sportarten und besonders der Schilanglauf zur Identität der Norweger:innen. Anne Holt zeigt Humor, wenn sie sich über den Nationalismus im Sport und auch die Ränkespiele der ehrgeizigen Funktionäre mokiert. Hege Chin Morell ist eine ganz und gar erfunden Figur. Die Autorin orientiert sich lediglich an dem Vorfall im Sportverband, die Charaktere ihres Romans haben mit lebenden Personen nichts gemein. Therese Johaug war zum Zeitpunkt als sie unter Dopingverdacht geraten ist, in Norwegen überaus beliebt, als Star verehrt. Hege hingegen gilt aus Ausländerin, man weiß nicht, wie man mit ihr umgehen soll, zumal sie lieber allein trainiert, als sich dem Bad in der Menge hinzugeben. So findet Hege auch keine Unterstützung in den Medien, ie Öffentlichkeit hat sehr schnell ihr Urteil gefällt.Selma Falck, die ehemalige Anwältin, die ihre Lizenz zu verlieren droht, weil sie in die Kasse ihres Mandanten gegriffen hat, hat Mitleid mit Hege, weiß aber nicht, ob sie die Wahrheit sagt. Doch sie weiß, sie muss es herausfinden, der Bestohlene ist Hege Chin Morells Adoptivvater, Jan Morell. Mehr noch als seine Bilanzen, liebt er seine Tochter, deshalb setzt er alles in Bewegung, um sie von der Dopingschande zu befreien. Er ist überzeugt, dass sie unschuldig ist. Er nimmt Selma Falck quasi als Geisel, verspricht ihr, sie nicht anzuzeigen und ihr die Schulden zu erlassen, wenn es ihr gelingt, Hege reinzuwaschen und ihre Sperre aufheben zu lassen. Doch Hege hat sich bereits in ihr Schneckenhau zurückgezogen und weiß, dass sie nie mehr ins Team zurückkehren wird.
Während Selma noch versucht herauszufinden, wer wirklich hinter dem Anschlag auf Hege steckt, wird Heges Kollege Haakon nach einem Unfall mit den Rollerschiern tot aufgefunden. Mordanschlag? Fahrerflucht? Ein anonymer Anrufer behauptet, dass auch Haakon Clostebol im Blut hat. Einen Ausweg aus den Sackgassen bietet Sselmas sonderbarer Freund Einar, ein ehemaliger Polizist, der suspendiert worden ist und nun auf der Straße vor sich hingammelt. Er meint, sie sollte nach dem Prinzip des „cui bono“ vorgehen, also prüfen, wer von den Anschläge profitiert. Ein guter Ratschlag, Selma kann Licht ins Dunkel bringen und findet heraus, wer die wahren Opfer sein sollen. Das Rätsellösen hat sich gelohnt, die Millionen-Schulden sind gelöscht und die Anwältin hat Lunte gerochen, Detektivarbeit wird ihr neuer Beruf werden. Die Fans von Anne Holt dürfe sich nach einem überraschenden Finale auf den nächsten Band mit Selma Falck freuen.
Übrigens, der Titel lehnt sich an eine in vielen Kulturen verbreitete Weisheit an: „Wer auf Rache aus ist, der grabe zwei Gräber.“ Doch auch das klärt sich erst nach dem unblutigen Showdown.
Anne Holt: „Ein Grab für zwei“, „En grav for to“, übersetzt von Gabriel Haefs, Atrium Verlag, 2021. 440 Seiten. € 22.70.