Kein Platz für die Fremde, Undine muss gehen
Mit dem Roman „Die Meerjungfrau von Black Conch“ benützt die britische Autorin Monique Roffey gekonnt und originell den Mythos von der schönen Frau, die mit einem schuppigen Schwanz im Wasser lebt und versucht, als Mensch unter Menschen zu leben, um ein Märchen für Erwachsene zu schreiben. Die bitter-süße Liebesgeschichte ist nur die rosafarbene Oberfläche einer Fülle von angesprochenen Themen, vom Kolonialismus und der Ausbeutung bis zum Fremdsein der Frauen in der Welt der Männer.
Der Mythos von den weiblichen Fabelwesen, die im Wasser leben, keine Seele haben und ab der Hüfte einem Fisch gleichen, ist uralt und wird immer wieder erzählt. Im deutschen Sprachraum wird Undine („unda“ ist das lateinische Wort für Welle) zum ersten Mal in einem Gedicht erwähnt. Sie sehnt sich nach Erlösung, will ein Menschenwesen sein und eine Seele haben. Die „Seele“ seht für Empathie, für die Fähigkeit Gefühle zu empfinden und bei anderen Menschen zu erkennen und darauf zu reagieren. Und wie immer, wenn es um Erlösung geht, sind die Frauen auf die Männer angewiesen: Nur die reine, treue Liebe kann Undine (Melusine, Rusálka oder Hans Christian Andersens „kleine Meerjungfrau“) retten. Was für die Männer spricht, ist die Tatsache, dass meist sie selbst es sind, die von ihrem Versagen berichten. Keiner der Prinzen und Ritter (Bei Ingeborg Bachmann und auch Jean Giraudoux heißen sie alle Hans) kann die Treue halten, das Tagesgeschäft ist wichtiger, die Liebe währte nur kurz. Undine muss sterben oder zurück ins Wasser. Die letzte Nachricht von Unidne hat Filmregisseur Christian Petzold 2020 überbracht. Im wunderbaren Film „Undine“ muss die Berlinerin Stadthistorikerin Undine (Paula Beer) den Fluch erfüllen und zurück ins Wasser. Davor aber …, nein, so unfair bin ich nicht, dass ich das Petzoldsche Märchen erzähle, in dem sich ebenso wie bei Roffey die Gegenwart mit der Vergangenheit, die Wahrheit mit der Erfindung verbinden.
David Baptiste, dem jungen Fischer auf der karibischen Insel Black Conch, ist Untreue nicht vorzuwerfen, es sind die Umstände, die Gier und die Angst vor dem Fremden, die Aycaia, die schon auf zwei Beinen gehen gelernt und Freunde gefunden hat, zurück ins Wasser schicken. Sie kann nicht erlöst werden.
David hat den Gesang der Meerjungfrau schon öfter gehört, wenn er früh am Morgen mit dem Boot hinausfährt, manchmal sieht er das Wasserwesen auch, er spielt ihr auf seiner Gitarre vor, mehr begehrt er nicht. Eine Tages kommen zwei Amerikaner, Vater und Sohn, nach Black Conch, um zu angeln, „doch dann kaschten sie stattdessen ne Meerfrau.“ Und damit beginnt ein Drama, das von David, vierzig Jahre nach dem heißen Sommer, selbst erzählt wird. Die beiden Touristen sehen sich bereits als Millionäre, sie wollen dieses fremdartige Wesen mit den langen schwarzen Haaren und den nackten Brüsten zu Geld machen, natürlich erst, nachdem sie die Fischfrau ordentlich begrapscht haben. David kann sie retten, will sie dem Meer zurückgeben, allein schafft er das nicht und legt sie in seine Badewanne. Aycaia lernt ein Mensch zu sein, zu gehen, zu sprechen, zu lieben und erfährt auch, wie schön das „Sexing“ ist. David macht ihr, die nicht mehr dem Meer gehört, sondern mit zwei Beinen der Erde, einen Heiratsantrag, doch ewig kann die Zweisamkeit nicht geheim bleiben. Die giftige Nachbarin ist es, die den Tratsch in Gang setzt und dafür sorgt, dass die Bewohner einig sind: Die Fremde muss weg. Aycaia weiß, dass sie nicht erlöst werden kann, ein Fluch lastet auf ihr, sie war zu schön. Die verheirateten Frauen neideten der schönen jungen Aycaia ihre Freiheit und konnten nicht ertragen, dass alle Männer hinter ihr her waren, auch wenn sie sich gar nicht um die Belagerer und Verfolger kümmerte. Aycaia wurde verflucht und ins Meer verbannt. Es ist hunderte von Jahren her, dass sie von ihrem Volk, den Taino, die längst ausgestorben sind, ausgestoßen worden ist. Manchmal, wenn der Sturm über die Insel fegt, hört sie den Chor der Weiber lachen. Aycaia kann nicht bleiben, darf kein Mensch bleiben, muss wieder zurück ins Meer. David lässt sie gehen und bleibt allein mit seinen Erinnerungen.
Was diesen Roman auszeichnet, ist einerseits die diskrete, perfekte Verflechtung von magischer Poesie und Romantik mit lebensnaher und historischer Realität in einer leichten, von Humor aufgelockerten Erzählung und andererseits die auch in der Übersetzung von Gesine Schröder aufleuchtende besondere Sprache. Der seine Erinnerungen aufschreibende David redet offenbar in einem lokalen Dialekt, Aycaia hat ihre eigene Sprache, die meist als Gedankenlyrik, oder gesungen, notiert ist. Am liebsten aber unterhält sich Aycaia mit dem gehörlosen Reggie, dem Sohn einer weißen Gutsherrin und eines schwarzen Inselbewohners, in Gebärdensprache. Durch die Musikalität im Stil und die unterschiedlichen sprachlichen Ebenen gelingt es Roffey, eine nahezu unheimliche Nähe zu den Leserinnen zu schaffen. Man zittert, lacht und weint mit David, Reggie und Aycaia und dichtet die Fenster ab, wenn Rosamund, der zerstörerische Wirbelsturm über die Insel fegt. Danach ist die Welt eine andere und nicht nur David hat etwas gelernt, damals vor 40 Jahren, als er der Liebe begegnet ist. Monique Roffey, deren Vorfahren aus unterschiedlichen Kulturen stammen, ist in Trinidad geboren und hat in England, wo sie bis heute lebt, studiert, hat einen Roman geschrieben, in dem die Gegensätze hart aufeinanderprallen: Liebe und Gier, Männer und Frauen, Schwarz und Weiß, Liebe und Gier, Macht und Unterdrückung, der Zuckerguss der romantischen Liebe und die Bittermandeln des Verlustes, aktuelle Realität, gehüllt in den Samtmantel eines Märchens.
Monique Roffey: „Die Meerjungfrau von Black Conch“, „The Mermaid of Black Conch“, aus dem Englischen von Gesine Schröder. Klett-Cotta / Tropen, 2022. 240 Seiten € 22,70. E-Book: € 17,99.