Anne Holt: "In Staub und Asche", Kriminalroman
Ein Mord, der möglicherweise ein Selbstmord war, ein Selbstmord, der vermutlich ein perfekter Mord war. Zwei Fälle, scheinbar ohne Zusammenhang, die der erfahrenen Kommissarin Hanne Wilhelmsen und ihrem Assistenten, dem tüchtigen, jungen Henrik Holme inoffiziell vor die Füße fallen. Sie lösen sie mit Hartnäckigkeit, Raffinesse und Scharfblick. "In Staub und Asche" ist mehr als ein gewöhnlicher Kriminalroman, ein Meisterwerk, aktuell und hochpolitisch, in dem Autorin Anne Holt auch die Denkweise rechter und radikaler Fundamentalist*innen durchleuchtet. Aufwühlend und gewinnbringend.
Der Plot ist kompliziert und schließt an den 2017 auf deutsch erschienen Roman „Ein kalter Fall“ (Piper) an, den man aber nicht kennen muss, um sich zurechtzufinden. Die Polizistin Hanne Wilhelmsen hat sich mit ihrem Leben im Rollstuhl abgefunden, ist „mit den Jahren pragmatischer geworden“, hält sich, im Gegensatz zum übereifrigen Henrik Holme, nicht mehr so sklavisch an die Regeln und löst zuhause mit Elan und der Hilfe des Internets sogenannte „kalte Fälle“, die ihr vom Präsidium anvertraut werden. Doch diesmal sind es private Interessen, die sie über den Tod der unsichtbaren Führerin einer extremistischen, islamfeindlichen Gruppe nachdenken lässt. Sie kann nicht an einen Selbstmord glauben. Zugleich stößt der mit zahlreichen Ticks beschwerte Polizist Henrik Holme auf den Tod eines kleinen Mädchens, dessen Vater einige Jahre später wegen Mordes an seiner Frau verurteilt worden ist, obwohl er bis zuletzt seine Unschuld behauptet hat. Jonas hat seine Strafe verbüßt und begegnet zufällig jenem bereits pensionierten Polizisten, der ihn vor Jahren dem Staatsanwalt zugeführt hat. Der Ermittler hatte jedoch selbst immer Zweifel an Jonas Schuld und bittet Henrik, sich des kalten Falls anzunehmen.
Anfangs scheinen beide Fälle klar vor dem kleinen Team Willemsen / Holme zu liegen. Einigen können sie sich nicht wirklich, denn Hanne interessiert der angebliche Selbstmord von Iselin Havørn – sie wurde im Roman „Ein kalter Fall“ als Rechtsradikale enttarnt –, deren Taten Hanne zwar verabscheut, doch geht ihr Gerechtigkeit über alles. Wenn Iselin möglicherweise ermordet worden ist, wird sie es aufklären. Henrik wiederum verbeißt sich in den Fall von Jonas Abrahamsen, der nie darüber hinweggekommen ist, seine kleine Tochter verloren zu haben und für einen Mord verurteilt worden zu sein, den er nie begangen hat. Während Henrik nach dem Fahrer des Autos sucht, in das die kleine Dina hineingelaufen ist, will Hanne mehr über die Frau der toten Iselin erfahren. Im Internet erfährt sie zu wenig, sie muss sich aufraffen und ausnahmsweise ihre vier Wände verlassen. Nefis, ihre Frau, fährt sie samt Rollstuhl durch Oslo, damit Hanne eine Freundin der toten Iselin besuchen kann. Damit hat sie, die sich weniger an das Bauchgefühl hält, als Fakten aneinander zu reihen und daraus Schlüsse zu ziehen, wieder einmal ins Schwarze getroffen. Sie findet die Schnittstelle, an der sich der Knoten löst und der verborgene Zusammenhang beider Todesfälle sichtbar wird.
In beiden Fällen spielt auch das Buch Hiob aus dem Alten Testament eine Rolle, dem auch der Titel des tiefgründigen Kriminalromans entnommen ist: „Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche“, sagt Hiob, nachdem er unermessliches Leid erfahren musste. Hanne Wilhelmsen interpretiert diese Geschichte mit zwei Worten: „Shit happens“. Es gibt keine Erklärung für Unglück und Leiden und auch nicht immer eine Ursache für das Gute und das Böse. Die Menschen, so einigen sich Hanne und Henrik, müssten sich damit abfinden, dass das Gute nicht immer belohnt und das Böse nicht bestraft wird. Doch engagierte Ermittler*innen, die auch unkonventionelle Wege wählen, um die Wahrheit zu finden und der Gerechtigkeit näher zu kommen, können in das Chaos der Welt ein wenig Ordnung bringen.
„In Staub und Asche“ ist der 10. Roman, in dem die eigenwillige, menschenscheue Hanne Wilhelmsen die Hauptrolle spielt. Norwegische Kritikerinnen wissen, dass es der letzte ist. Schade. Hanne Wilhelmsen ist eine so lebendige, nicht uneingeschränkt sympathische Person, die Leser*innen von Holts durchdachten und eindringlichen Romanen seit bald 25 Jahren begleitet. Dass nichts mehr Neues über ihre Arbeit und ihr Leben mit Nefis und der 13jährigen Tochter Ida zu erfahren sein wird, macht traurig. Doch Holt hat ihre nächste Serienfigur bereits eingeführt. Die Kriminalpsychologin Johanne Vik ist durch die Serie „Modus – Der Mörder in uns“ mit Melinda Kinnaman auch TV-Zuschauerinnen bereits bekannt.
Anne Holt: “In Staub und Asche“, „I støv og aske“, aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriel Haefs, Piper 2018. 416 S. € 22,70. E-Book € 18,99.